Was ist zeitgemäße Bildung?

zeitgemäße Bildung KopieIch durfte im Juli bei Schule in BWgungPilotschule und was dann? zu Lehrenden aus dem tabletBS-Projekt über Digitale Bildung im Jahr 2020 sprechen. Die Folien dazu möchte ich mit diesem Beitrag veröffentlichen und erläutern, weil mich einige Beobachtungen und Fragen im Bildungsbereich zunehmend beschäftigen, die ich mir in öffentlichen Debatten breit und vertieft diskutiert wünsche.

Weshalb das Ganze?

Dass die Technik in Schulen veraltet oder nicht vorhanden ist, gehört mittlerweile zum allgemeinen Konsens. Irgendwas mit digital, sagt man, sollte man mehr unterrichten, weil alles irgendwie mehr digital ist und wird. Und so schmückte man zum Beispiel vor einigen Jahren möglichst viele Klassenzimmer mit IWBs (Interaktive Whiteboards, auch als digitale Tafeln oder Smartboards bekannt), mit der Vorstellung, irgendwas getan zu haben, das irgendwie schon zu irgendeinem Ziel führen wird. Was aber schwammig oder gar nicht im Vorfeld formuliert wurde, konnte auch nicht erreicht werden. Deshalb sehe ich die Frage nach dem Warum als essentiell, am Anfang und roten Faden für eine vernünftige Entwicklung einer Vorstellung, was zeitgemäße Bildung sein soll, kann oder muss. Sie muss als Einzelperson, Schule, Kommune, Land und Bund immer wieder neu gestellt, diskutiert und (zeitgemäß) beantwortet werden: Weshalb das Ganze?
Alles, was automatisiert werden kann, wird automatisiert. Die putzigen Amazon Roboter (ehemals Kiva Systems), die über QR-Codes orientierend die Gänge von Lagerhallen entlang flitzen, werden gerne als Beleg für diese Aussage im Bereich Lagerlogistik gezeigt. Die ersten Videos wurden übrigens bereits 2008 hochgeladen. Im Prinzip stehen sie nur für einen Teil des Transportwesens, das zunehmend automatisiert wird. Das reicht von gigantischen, selbstfahrenden und miteinander vernetzten Lastwagen bis hin zum Transport von Menschen in selbstfahrenden Autos und Bussen. Dazu und noch mehr, kann man sich in diesem populären Video ansehen. Auch das Bauwesen erhält Unterstützung von Bots und riesigen 3D-Druckern, die innerhalb von 24 Stunden ganze Häuser hinstellen. Am meisten beeindrucken aber immer wieder die Ergebnisse des Robotik-Unternehmens Boston Dynamics, das 2013 von Google gekauft wurde, mit Atlas, HandleSpot oder Sand Flea. Abschließen möchte ich den Blick auf die Wirtschaft mit dem alltäglichen Leben, um die (nicht selten empfundene) vermeintliche Ferne dieser Technik zu relativieren. Damit meine ich die steigende Zahl an Schnellkassen in Geschäften oder Touch-Displays, auf denen man sich eine Fahrkarte buchen, Essen selbst zusammenstellen oder über Lokales informieren kann, die sich fast unbemerkt in unseren Alltag schleichen. Vergessen wir auch nicht den Onlinehandel, der in vielen Bereichen bereits für radikale Umbrüche gesorgt hat. Angefangen beim Zeitungssterben bis hin zu den vielen, kleinen lokalen Anbietern, die nach Lösungen suchen müssen, um im ungleichen Zweikampf neben Riesen wie Amazon & Co überleben zu können. Es häufen sich die Prognosen, dass Massen von Jobs durch den Einsatz von Robotern und Bots wegfallen werden. Ob und wie viel davon, wann eintreten wird, weiß ich nicht. Stephan Noller eröffnete vor einiger Zeit hierzu eine lesenswerte Debatte bei Facebook. Dass sich Arbeit und Anforderungen ändern werden, steht außer Frage und stellt nichts Neues dar. Was neu sein könnte, ist die Geschwindigkeit bzw. die Dynamik und die gesellschaftliche Tragweite. Sich auf etwas Unvorhersehbares vorzubereiten, scheint zumindest eine daraus resultierende Aufgabe zu sein.
Bildschirmfoto 2017-09-08 um 18.29.28Die ökonomische Perspektive allein genügt natürlich nicht, wenn man die gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen durch den digitalen Wandel erfassen möchte. Die sich verändernden beruflichen Anforderungen und Bedingungen, werfen dabei einige Fragen auf. Wie bereite ich junge Leute auf Jobs vor, die es noch nicht gibt? Wie verändern die neuen beruflichen Anforderungen und Bedingungen das Leben einer Person als Individuum und Teil einer Gemeinschaft? Was wären und wie erreicht man für alle günstige Voraussetzungen? Wenn man bedenkt, wie die Erfindung des Buchdrucks das Zusammenleben innerhalb der Gutenberg-Galaxis revolutioniert hat, kann man sich die Auswirkungen durch weltweit miteinander vernetzte Computer bzw. die Personen dahinter erahnen. Auch in der Turing-Galaxis werden bestehende Strukturen aufgelöst und der Zugang zu Informationen mehr Menschen ermöglicht und vereinfacht. Das Smartphone und Tablet sind fassbar und ziehen dadurch in mancher Diskussion die Aufmerksamkeit auf sich. Es ist aber das Internet, das den Wandel mit sich brachte und bringt. Wie wir kommunizieren, konsumieren, arbeiten, lernen, Ideen entwickeln, forschen, die Welt begreifen, wandelt sich. Durch soziale Netzwerke lesen wir nicht nur mehr Texte, sondern können mit denen, die sie verfasst haben, zeit- und ortsunabhängig diskutieren. Über Livestreams erhalten wir Bilder von nahezu jedem Fleck und Geschehen auf diesem Planeten. Die Karten der Deutungshoheit werden neu gemischt. Saßen wir noch gestern vor linearem Fernsehen und Zeitungen, bespielen wir heute selbst unsere Social Media-Kanäle mit Inhalten. Push-Benachrichtigungen im Sekundentakt. Wichtiges und Unwichtiges von allen und jederzeit. Die politischen Entwicklungen auf nationaler und internationaler Ebene erscheinen durch die Kanäle sozialer Netzwerke nicht nur näher und greifbarer, sondern auch verknüpfter und komplexer. Das geografische Umfeld bestimmt nicht mehr allein die kulturelle Prägung und Sozialisation.

Und im Bildungsbereich?

Bildschirmfoto 2017-09-08 um 18.18.15„Alles, was digitalisiert werden kann, wird digitalisiert.“ beschrieb ich es in meinem Vortrag in Neckarsulm. Eine, meine Beobachtung der letzten Jahre, die ich kurz begründen möchte. Wenn man einen Blick auf die Fortbildungsangebote wirft oder sich an Veranstaltungen zum Thema Digitale Bildung die Programme durchliest, scheint die einzige Veränderung das Adjektiv digital zu sein. Man preist digitale Lerntheken, digitale Arbeitsblättern oder digitale Lerntagebücher an. Anstatt gedrucktem Papier im BILLY-Regal sammelt man nun Listen mit Apps und Tools in Clouds. Mit Toolifizierung, möglichst häufig und viele neue Medien (wobei hier fälschlicherweise neue Medien mit Technik gleichgesetzt und Medien als Werkzeuge verstanden werden) einzusetzen, und Quizzifizierung, Wissen über den Nürnberger Trichter in Form von Quizzen zuzuführen, führte Lisa Rosa zwei Begriffe ein, die eine weitere Entwicklung kritisch beschreiben. Auch das populäre SAMR-Modell, das mit seiner niederen Einstiegshürde motivieren und als Brücke zu neuen Lehr- und Lernszenarien führen soll, klang für mich nur anfangs schlüssig. Mittlerweile befürchte ich, dass es ein falscher Ansatz ist, weil er den Fokus auf das Digitale lenkt und Phänomene wie Toolifizierung und Verquizzung nicht nur begünstigt, sondern echte Innovation bremst, wenn nicht sogar verhindert. Das gängige Argument klein anzufangen kann zu klein denken verleiten und die mögliche Überforderung der neuen Technik, die das stufenweise Heranführen begründet, wird meiner Meinung nach mit Neues zu denken verwechselt.* Die Bezeichnung Digitale Bildung hat sich zwar in den letzten Jahren als praktische Verkürzung für Ankündigungen von Veranstaltungen, Vorträgen, Fortbildungen und auch als Hashtag durchgesetzt, trägt aber einen Teil dazu bei, dass notwendige Neuerungen in der Bildung, bedingt durch den digitalen Wandel, gedanklich auf ein digitales Add-on reduziert werden. Deshalb fordern manche auch gerne ein neues Fach oder eine neue Kompetenz, die zum bisher Bestehenden einfach hinzufügt werden soll. Ich glaube, dass es einen anderen Begriff benötigt, der zum Denken im großen Ganzen anregt. Meine vor Monaten verfasste, kurze Begründung, weshalb ich mich für zeitgemäße Bildung entschieden habe, möchte ich um folgende Punkte ergänzen:

  • weil zeitgemäße Bildung einen nie endenden Entwicklungsprozess beschreibt
  • weil zeitgemäße Bildung sich an aktuellen Herausforderungen misst
  • weil zeitgemäße Bildung für eine Gesamtbetrachtung steht
  • weil zeitgemäße Bildung immer wieder eine Reflexion einfordert
  • (weil zeitgemäße Bildung uns das Bildung 2.0, 4.0 und x.0 erspart)

(Seit einem halben Jahr begleitet mich dieser Ausdruck bei allen Gedankengängen und hat bisher jeder erneuten Überprüfung standgehalten.)

Wofür steht zeitgemäße Bildung?

Bildschirmfoto 2017-09-08 um 18.18.52Zeitgemäße Bildung orientiert und reflektiert sich immer wieder neu an allen Herausforderungen gesellschaftlicher Entwicklung, die aus dem digitalen Wandel resultieren. Sie sucht in einem neuen Lehr- und Lernverständnis nach Antworten auf alle Fragen, die sich aus den oben angerissenen Legitimationen stellen. Lernen als lebenslanger Prozess, der nicht an Zeit und Ort gebunden ist und in einem persönlichen Lernnetzwerk stattfindet. Das 4K-Modell des Lernens sehe ich momentan als eine Möglichkeit, junge Menschen auf das vorzubereiten, das sie heute und morgen erwartet. Was ich darunter verstehe, habe ich hier verschriftlicht. Zeitgemäße Bildung unterscheidet beim Lernen nicht zwischen einzelnen Fächern, Klassen, Schularten oder formaler und non-formaler Bildung. Das Web nimmt dabei eine bedeutende Funktion ein. Die Rolle des Lehrenden und Lernenden ist flexibel und kann wechseln. Zeitgemäße Bildung braucht Räume für Lernprozesse mit Trial and Error. Räume, um neue Konzepte zu entwickeln oder Projekte durchzuführen. Nur neue Prüfungsformate und Bewertungsansätze werden diese Räume ermöglichen. Zeitgemäße Bildung leitet eine Epoche der zweiten Aufklärung ein und strebt eine Mündigkeit an, die unsere Gesellschaft aus der Beobachterstellung befreit und zur Mitgestaltung des digitalen Wandels befähigt.  Beginnen wir damit.

 

*In einer Barcamp-Session an meiner Schule tauschte ich mich mit meinem Kollegium, das bezüglich Thematik rund um den digitalen Wandel keine führende Rolle spielt, zu zeitgemäßer Bildung aus. Dabei unterschieden sich ihre Fragen und Folgerungen stark von denen der Digitale Bildung-Community im Netz. Es ging um gesellschaftliche Veränderungen und wie man ihnen begegnen kann. Es ging nicht um Apps oder mobile Endgeräte, sondern um Menschen, Ethik oder Umwelt. Alles wurde in Frage gestellt und Neues angedacht. Eine Überforderung konnte ich nicht feststellen – im Gegenteil. Sie hatten Spaß daran, gedanklich auszubrechen und nach möglichen Lösungen in unserem Rahmen zu suchen. In der über Jahre geführte Debatte im Netz, wie man in Schulen Digitale Bildung vorantreiben kann, traf ich häufiger auf den Standpunkt (den ich auch lange Zeit vertrat), dass neben den der fehlenden Technik die Überforderung ihrer Anwendung die größte Hürde sei. Dass der digitale Wandel nicht als kulturelle Revolution wahrgenommen wird, liegt vielleicht aber auch daran, dass man ihn durch den Fokus auf die Technik in eine Nische gedrängt hat, der den Blick auf die Gesamtheit erschwert. Möglicherweise werden die vielen Lehrer_innen, die noch nicht im Web populär stattfinden, die kritische Masse für zeitgemäße Bildung einleiten, weil sie sich an der gesellschaftlichen Notwendigkeit und den daraus resultierenden Fragen orientieren. Gestern sprach ich in einem Podcast mit Jöran über diese These, die er mit folgendem Satz zusammenfasste: Die Speerspitze der Digitalen Bildung wird nicht die der zeitgemäßen Bildung sein.

9 Comments

  1. Es gab schon immer „zeitgemässe Bildung“ – und es wird auch weiterhin „zukunftsorientierte“, „zeitgemässe“ und „veraltete“ Bildung geben. Ich bevorzuge „Lernen unterwegs“. Es führt das Lernen weiter, wie es unser Leben während unserer ersten 6 Lebensjahre bestimmt. Bedeutet, der exklusive Lernort Schule, der bestimmt, zu welchem Zeitpunkt wir was wo lernen, wird relativiert.

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  2. „Zeitgemäße Bildung“ in seiner Ganzheit besteht nicht nur im System Institution Schule, sondern geht weit darüber hinaus. „Selbstbestimmende Bildung“ ist eine ebenso „Zeitgemäße Bildung“ die aber den „exklusiven Lernort“- bzw. Lebensort Schule überflüssig macht.

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    1. (Stimme zu. Dafür steht die letzte Folie im Blogbeitrag, die ich vielleicht nicht ausreichend erklärt habe. Ich beschreibe alles aus meiner Perspektive als Lehrer. Deshalb kann der Eindruck enstehen, dass es sich nur auf das System Schule bezieht.)

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    2. Auf den Lernort Schule möchten weder meine SchülerInnen noch ich verzichten. Das Digitale gibt der Schule respektive den LehrerInnen die Möglichkeit, die SchülerInnen ihre Lernorte und Lernzeiten mitbestimmen zu lassen. Dass die Schule diese Möglichkeit nicht wahrnimmt resp. nicht wahrnehmen kann, liegt an der fehlenden Ausbildung, angefangen bei den Fachdidaktik-DozentInnen an den PHs und nicht endend bei den VolksschullehrerInnen.

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  3. Genauso, wie Du unzufrieden mit dem Hashtag #digitaleBildung warst, konnte ich mich irgendwie nie mit dem Begriff zeitgemäße Bildung anfreunden. Weil ich in vielerlei Hinsicht Deine Auffassungen darüber teile, was gute Bildung ist, hat mich dieses begriffliche Unbehagen dazu angeregt, genauer darüber nachzudenken, was mich an dem Begriff „zeitgemäß“ stört. Meine These lautet: Wenn Du „zeitgemäß“ sagt, meinst Du eigentlich „unzeitgemäß“. Mehr dazu in meinem Blog: http://bildungsluecken.net/643-warum-bildung-nicht-zeitgemaess-sondern-unzeitgemaess-sein-muss

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  4. Seit ich Ihre Abhandlungen über „zeitgemässe Bildung“ (wohl im digitalen Kontext) lese, lässt mich der Begriff „zeitgemäss“ nicht mehr los. Was unterscheidet „zeitgemässe Bildung“ von „unzeitgemässer Bildung“? Welches sind die „zeitgemässen“ Ansprüche? Von wem (von welchen Interessenvertretern) werden diese Ansprüche formuliert?

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  5. Warum wird vermieden, auf **die** fachliche Grundlage für Bildung überhaupt auch nur hinzuweisen?
    Die Bezugswissenschaft für **alle** dargestellten Element ist nun mal **Informatik**. Daher wäre es folgerichtig, wenn hier auch mal erwähnt wird, dass wir diese fachliche Grundlage als Bestandteil der Lehrerbildung schaffen müssen – in der Schule (und zwar für alle Kinder ab der 1. Klasse der Grundschule) sowieso. Damit – und nur damit – schaffen wir die notwendige Basis für die Bildungsprozesse.

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  6. Ich finde nicht, dass sich das SAMR-Modell und das 4-K-Modell ausschließen, ganz im Gegenteil. Die 4 Ks sind für mich als Fremdsprachenlehrerin, der Medienbildung am Herzen liegt, absolut wichtig, doch in kann Technologie dazu einsetzen, sie zu erreichen, im Idealfall indem ich in den Bereich der Neudefinition komme (s. Virtual Reality, Unmögliches möglich machen). Aber prinzipiell ist es für mich lediglich ein Spektrum, auch wenn viele Kollegen bei Substitution und Erweiterung festhängen und leider gar nicht weiter denken wollen. Es geht also nicht um die Technologie, aber sie kann zum Hilfsmittel werden.

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