Letzten Sonntag deaktivierte ich nach fast zehn Jahren meinen Twitter-Account bzw. mittlerweile X-Account und löschte die Twitter-App von allen Geräten. Es war eine persönliche, aber auch politische Entscheidung. Auch wenn das unterhaltsame GIFs, lustige Memes oder süßer Katzencontent einen immer wieder vergessen lassen können: soziale Netzwerke sind politisch. Wer und was gesehen wird, ist bzw. wird relevant gemacht und prägt öffentliche Debatten oder sogar politische Entscheidungen. Soziale Netzwerke haben nicht nur zu grundlegenden Veränderungen in vielen Bereichen geführt, sie unterliegen auch selbst einem stetigen Wandel. Musk und sein Projekt X sind ein guter Anlass, darüber zu sprechen, wie soziale Netzwerke funktionieren, wirken und genutzt werden. Vielleicht ist die Zeit reif und der Moment günstig für eine Idee von sozialen Netzwerken, die klüger machen, zur Beteiligung einladen und befähigen und sich an Werten orientieren, die Demokratien schützen und stärken können.

Sozial, ökonomisch und politisch

Musk und X sind nur der nächste Schritt einer sich schon lange vollziehenden Entwicklung. Es ist nicht so, dass Jack Dorsey und sein Twitter, bevor es im Oktober 2022 an Musk verkauft wurde, ein demokratisches Vorzeigeprojekt gewesen wären. Auch er ist ein Milliardär, der Spielfelder und Regeln öffentlicher Debatten bestimmt. Nur, weil Dorsey weniger als Egomane mit fragwürdigen Werten und Handlungen bekannt ist und auch mal größere Summen für gute Zwecke spendet, ändert das nichts am zentralen Problem: Einzelne reiche Menschen (weiße Männer) können (zu sehr) bestimmen, wer und was auf ihren Plattformen eine Bühne erhält. Dabei folgen sie in der Regel einer ökonomischen bzw. kapitalistischen Logik. Wenn es dem Geschäftmodell dient, wird auch denen die Hand gereicht, die Demokratien schwächen oder sogar zerstören möchten. 

Facebook ist mit knapp 3 Milliarden Nutzer*innen die weltweit größte Plattform. Ein soziales Netzwerk, über das man anfangs Personen wiederfand, die man aus dem Blick verloren hatte und das so Menschen weltweit miteinander verband (und dadurch vieles grundlegend veränderte). Für meine Frau und mich war es vor über zehn Jahren eine einfache Möglichkeit, mit unseren Verwandten, die größtenteils in Finnland, Serbien und Nordmazedonien lebten, im Austausch zu bleiben. Es wurden schöne und schmerzhafte Momente miteinander geteilt und die räumliche Entfernung schien plötzlich überwunden. 

In den letzten Jahren wurde Facebook zunehmend zu einer Werbeplattform umfunktioniert. Zum Beispiel die chronologische Timeline mit Fotos und Updates aus dem Leben von Familienmitgliedern, Freunden und Bekannten musste früh weichen. Ersetzt wurde sie irgendwann durch eine Auswahl an Beiträgen, die laut eines Algorithmus einen interessieren könnten oder sollten. Von wenigen Personen, mit denen man vernetzt war, von Fremden und immer mehr von Produkten. Das soziale Netzwerk wandelte sich schleichend, aber stetig zu einem ökonomischen. 

Diese Ökonomisierung führte auch zur Verstärkung des Politischen. Es lässt sich darüber streiten, wie und wie stark sich der Ausgang von Wahlen oder politischen Entscheidungen von und mit sozialen Netzwerken beeinflussen lassen. Dass ein Einfluss besteht, ist unumstritten. Das Versprechen von Microtargeting war ein Schritt auf diesem Weg. Ein weiterer, dass Algorithmen bzw. Milliardäre, die diese so programmiert haben wollten, menschenfeindliche und demokratiegefährdende Inhalte breit gestreut und begünstigt haben oder um es in ökonomisch betrachtet einzuordnen: Was Klicks und Aufmerksamkeit erzeugte, ließ sich für höhere Beträge verkaufen und war profitabel.

Möchte an der Stelle erinnern, dass Dorsey den Account von Trump erst im Januar 2021 sperrte, nachdem er zum Sturm auf das Kapitol aufrief. Die vielen Jahre zuvor schuf und gab er ihm gerne eine Bühne mit weltweitem Einfluss, die zu Trumps politischem Erfolg und dem Demokratieabbau (nicht nur) in den USA beitrug, wovon Dorsey profitierte.

Einer der größten Erfolge des Neoliberalismus und Kapitalismus ist die weit verbreitete (gezielt gestreute und erfolgreich beworbene) Erzählung und das Missverständnis, die Ökonomie würde, wie Naturwissenschaften, naturgegebenen Gesetzen folgen und wäre neutral, logisch und unpolitisch. Wie es dazu kam und weshalb das falsch ist, kann man u.a. in dem Buch Die Donut-Ökonomie von Kate Raworth nachlesen. Sie erklärt auch sehr anschaulich, wie stark allein die Bilder und Ideen der Ökonomie unseren Alltag prägen, wie wir uns verstehen und handeln. 

Der Begriff User*innen/Nutzer*innen verdeutlicht dieses Bild auf individueller Ebene und welche Rolle mir zugesprochen wird. Plattformen sozialer Netzwerke sind dabei als Dienstleistungen zu verstehen, die von Kund*innen genutzt werden können. Besiegelt durch allgemeine Geschäftsbeziehungen. Dass sie schon immer auch zur Gestaltung des zivilgesellschaftlichen und politischen Zusammenlebens genutzt wurden, liegt weniger an der Einladung oder Idee der Tech-Milliardäre, sondern mehr am natürlichen Interesse und Antrieb von Menschen, sich mehr als Bürger*innen statt Kund*innen zu verstehen. Was aber auch nur geduldet wird, solange es dem Geschäftsmodell dient und nicht schadet. 

Vielleicht lässt sich das Zusammenspiel zwischen der sozialen, ökonomischen und politischen Funktion, Nutzung und Wirkung auf folgende Weise zusammenfassen:

Sozial steht hier für das Interesse von Menschen, sich über Dinge auszutauschen, die sie bestimmen. Ökonomisch steht für das wirtschaftliche bzw. kapitalistische Interesse von Zuckerberg, Musk & Co, mit ihren Plattformen möglichst viel Geld zu verdienen. Der rote Regler soll die Möglichkeit darstellen, dass sich der Schwerpunkt eines sozialen Netzwerkes zwischen sozial und ökonomisch verschieben kann und lässt, aber dabei stets politisch bleibt. Mit diesem Bild könnte man beschreiben, dass der Regler bei Facebook in den ersten Jahren stark auf der sozialen Seite lag und danach immer stärker zur ökonomischen verschoben wurde. (Was je nach Land und Kontinent sicher unterschiedlich war und wahrgenommen wurde.) 

Je mehr Menschen einer Plattform beitreten, umso sozial, ökonomisch und politisch relevanter wird sie. Was das Werben um neue, mehr Mitglieder ökonomisch erklärt, sozial begründet und politisch interessant macht. Neben der Masse kann auch das Wer eine bedeutende Rolle spielen. Wer sich bei einer Plattform anmeldet und sich aktiv beteiligt, trägt zu ihrer Relevanz bei. Je bekannter und beliebter eine Person, umso stärker ihre Wirkung und Verantwortung.

Architektur und Kultur sozialer Netzwerke 

Bei Facebook postest du, dass und wo du Pizza essen gehst, bei Instagram teilst du ein Foto der Pizza und bei Twitter schreibst du darüber. Das war lange Zeit eine grobe, aber auch treffende Zusammenfassung und Unterscheidung ihrer Funktionen und Nutzungen. Während die Suche nach Ideen und Konzepten, mit sozialen Netzwerken Geld zu verdienen, immer stärker in den Vordergrund rückte, schwanden damit auch vermehrt die einstigen, teilweise deutlichen Unterschiede sozialer Netzwerke. (Ein bekanntes Kapitel dieser Angleichungen war die Phase, in der scheinbar jedes soziale Netzwerk die Story-Funktion haben musste.)

Die Begrenzung auf 140 Zeichen hat Twitter lange Zeit ausgezeichnet. Es hat bestimmte Menschen angesprochen, zusammengeführt und eine besondere, vielschichtige Kultur entstehen und sich entwickeln lassen. So konnten sich beispielsweise wenig privilegierte Personen/-gruppen, die über keinen der exklusiven Zugänge zu TV- und Printmedien verfügten, selbst ihre Bühnen schaffen, wichtige Themen setzen und vor einer breiten Öffentlichkeit strukturelle Probleme ansprechen und sichtbar machen. Es konnten so zahlreiche gesellschaftliche Auseinandersetzungen eingeleitet und politischer Druck aufgebaut werden. (Das Buch Twitter and Tear Gas von Zeynep Tüfekçi eröffnet hier u.a. einige Perspektiven, welche enorme Funktion, Nutzung und Wirkung Twitter hatte.)  

140 Zeichen konnten zwar einerseits als Einladung zur Reduktion auf das Wesentliche verstanden werden, mit der Aufgabe, Dinge auf den Punkt zu bringen. Andererseits begünstigte die Zeichenbegrenzung auch eine Verkürzung, Vereinfachung von komplexen Sachverhalten und populistische Aussagen. So konnten ebenfalls Personen (ohne eine fachlich relevante Expertise) zu Twitter-Berühmtheiten aufsteigen, nur weil sie das Empörungsspiel perfekt beherrschten. Leider war hier die populäre Einordnung „berühmt bei Twitter ist wie reich bei Monopoly“ auch oft eine Verkürzung. Die Transformation der Öffentlichkeit und damit auch die Medienlandschaft hat eine Aufmerksamkeitsökonomie entstehen lassen, die mehr dazu beiträgt, Probleme zu verstärken als sie zu lösen.

Das skizzierte 140 Zeichen-Beispiel zeigt, wie die Affordanz (wozu etwas einlädt; wie z.B. ein Stuhl zum Sitzen einlädt), technische Architektur, neben der bereits erklärten Unterscheidung und Verschiebung zwischen sozial und ökonomisch, die Kultur eines sozialen Netzwerks prägen kann und lässt die komplexen Zusammenhänge zwischen Technik und Kultur erahnen. Ob und wie eine Moderation stattfindet, ist hier ein weiteres, wichtiges und beeinflussendes Element. Soziale Netzwerke sind nicht nur technische Möglichkeiten eines Accounts, sondern (unterschiedlich stark) Teil der eigenen Identität, persönlichen Geschichte. Auch meiner. Was u.a. die Wut, Ohnmacht, Trauer oder Verdrängung zahlreicher Menschen über die Zerstörung von Twitter durch Musk erklärt.

Welche sozialen Netzwerke braucht es?

Lange Zeit galt, dass man mit Twitter viel erreichen kann, nur kein Geld verdienen. Das wollte Musk (aus welchen Gründen auch immer) ändern und hat wie Zuckerberg den Regler von sozial zu ökonomisch verschoben. Was bei Facebook aber ein schleichender Prozess über viele Jahre war, hat Musk in kurzer Zeit vollzogen. Neben dem hohen Tempo und der fragwürdigen Twitter Blue-Idee spielten aber auch die Kultur und Community (wer, wie und worüber sich ausgetauscht wurde) beim Scheitern eine zentrale Rolle. Das “Ende von Twitter” kann als ein Beispiel dienen, wohin die Reise zunehmender Ökonomisierung sozialer Netzwerke führen kann.

Vielleicht ist die Zeit aber auch reif und günstig für andere, allgemein hilfreichere gesellschaftliche Entwicklungen. Die Klimakrise, Demokratiekrisen und vielen anderen komplexen gesellschaftlichen Herausforderungen und Probleme zeigen, dass es soziale Netzwerke braucht, die das bestärken, was ohnehin immer schon da war: ein soziales Netzwerk der Bürger*innen. In Krisen wurden immer wieder bei Facebook-Gruppen eröffnet und bei Twitter Hashtags ins Leben gerufen, die Menschen in unterschiedlicher Weise halfen und solidarisches Handeln organisierten. Hier waren es Bürger*innen, die sozialen Interessen folgten und keine Kund*innen, die eine kapitalistische Logik erfüllten.

Es bräuchte somit soziale Netzwerke, die Menschen einladen und befähigen Bürger*innen zu sein und den Regler zu sozial und selbstbestimmt schieben. Wo ihre Handlung nicht darauf beschränkt wird, aus fertigen Menüs auszuwählen, sondern sie selbst Rezepte und ihre Zubereitung lernen und bestimmen können. Es bräuchte auch einen größtmöglichen Schutz, nicht vom nächsten Musk aufgekauft zu werden und zu verhindern, dass Menschen wieder in die Kund*innenrolle gedrängt bzw. darauf reduziert werden, fremdgesteuert von Algorithmen. (Was sicher komplexer ist als es auf den ersten Blick scheint.)

Wie wäre es mit einem sozialen Netzwerk, das ein digitaler Begegnungsraum und Dritter Ort ohne Konsumzwang, wie Stadtbibliotheken oder Museen, sein könnte?  Wie wäre es mit einem sozialen Netzwerk, bei dem die Werte, an denen sich mögliche, neue Funktionen, Nutzungen und Wirkungen orientieren, gemeinsam ausgehandelt werden und Demokratien stärkend sein können? Seit dem Niedergang Twitters setzen hier immer mehr Menschen auf Mastodon, das keine geschlossene Plattform wie Facebook oder X bietet, sondern eine dezentrale und offene Lösung darstellt, die einer anderen Logik folgt. Was das genau (nicht nur technisch) bedeutet, hat freundlicherweise Steffen Voß hier aufgeschrieben. 

Auch Bluesky ist in den letzten Wochen im deutschsprachigen Raum gewachsen und wirbt auf seiner Website mit Dezentralität und Offenheit. Aktuell ist das soziale Netzwerk aber das Gegenteil davon bzw. fällt durch erzeugte Exklusivität auf, weil man ihm nur durch einen Invite-Code beitreten kann, den ausschließlich Personen erhalten und vergeben können, die bereits dort sind. Das und die Tatsache, dass Jack Dorsey (der auf jeden Fall auch politisch kritisch betrachtet werden sollte) bei Bluesky keinen geringen Einfluss hat, sollte bei jeder Person zumindest eine gesunde Skepsis auslösen.

Wer bereits viel Zeit und Kraft in ein soziales Netzwerk investiert hat, stellt sich umso mehr die Frage, ob und wo ein weiteres Mal investiert werden möchte, kann und soll. Folgende und viele weitere Fragen beschäftigten mich die letzten Monate immer stärker bei X:

Was muss (noch) geschehen, um ein soziales Netzwerk zu verlassen? Genügt es z.B., wenn Accounts zugelassen und begünstigt werden, die menschen- und demokratiefeindliche Aussagen verbreiten, Hass schüren und Personen beleidigen oder sogar bedrohen? Oder ist hier die Menge und Qualität entscheidend? Wo endet die persönliche Grenze und Betroffenheit und beginnt die gesellschaftliche Verantwortung? Wie entwickelt sich das Verhältnis zwischen Information und Desinformation?

Manche dieser Fragen stellte ich auch bei Twitter. Nicht selten lautete die Antwort darauf, dass die beschriebenen Dinge einen selbst nicht betreffen würden oder man das nie erlebt habe und es somit unbekannte Phänomen seien, die es vielleicht auch gar nicht gäbe. Aussagen, die allen bekannt vorkommen, die sich mit Rassismus, Sexismus oder anderen Ismen auseinandersetzen und die Teil struktureller Probleme sind: Privilegierte kennen und sehen ihre Privilegien nicht. X ist nicht die Ursache von Rassismus, Sexismus und den anderen Ismen, aber die Plattform begünstigt und verstärkt sie.

Es gibt keine einfache technische Lösung für komplexe gesellschaftliche Probleme. Weshalb eine andere technische Architektur, Affordanz und Moderation nicht automatisch zu weniger Ismen führen oder ihnen von sich aus entgegenwirken. Weshalb Mastodon und das Fediverse mit seinem dezentralen und offenen Ansatz eine Möglichkeit darstellen, es besser machen zu können, ohne zwangsläufig besser zu sein. Mehr Diversität und Beteiligung können ermöglicht und gefördert werden. Können. Zumindest begünstigen die fehlenden Algorithmen und die Abwesenheit ökonomischer, kapitalistischer Logik, dass die Rolle der Bürger*innen und nicht der Kund*innen gestärkt wird. 

„Was tun wir uns selbst an, wenn wir uns 3.000 Mal am Tag sagen, dass wir Konsument*innen sind? […] Wie sähe es aus, wenn wir die gleiche Energie und Inspiration, die wir derzeit darauf verwenden, uns zu sagen, Konsument*innen zu sein, in den Aufbau unserer Handlungsfähigkeit als Bürger*innen stecken?“ 

Jon Alexander, Citizens – Why the key to fixing everything is all of us

Mastodon ist seit einigen Monaten mein neuer Erstwohnsitz im Netz. Seitdem fühle ich mich weniger von Algorithmen und Empörungsspiralen getrieben. Zum Beispiel nicht mehr zu sehen, ob und wie jemand auf einen Beitrag reagiert, den eine andere Person gepostet und ich geteilt habe (retweeten/boostern), hat mich anfangs irritiert, weil ich das nicht gewohnt war. Meine Wahrnehmung (von mir und anderen) und mein Verhalten haben sich dadurch verändert. Auch viele angenehme, anregende Begegnungen und Gespräche haben diese Zeit geprägt. Und doch fehlen mir (im Vergleich zu Twitter, nicht X) noch die vielen diversen und internationalen Expertisen und Perspektiven von Künstler*innen und Wissenschaftler*innen. Nicht alles ist perfekt bei Mastodon. Aber der Ansatz, das Potenzial und die aktuellen Entwicklungen lassen mich dort meine Zeit und Kraft investieren.  

(Witzigerweise gab es genau zu dem Zeitpunkt, an dem ich bei Twitter ankündigte, mich dort bald endgültig zu verabschieden und zukünftig bei Mastodon zu finden zu sein, Probleme bei det.social, der Instanz, auf der ich meinen Account habe. Ich konnte mehrere Tage von keiner Person gelesen werden, die nicht auch auf meiner Instanz war. Die Kommunikation zu diesem Problem wirkte nicht so, wie ich es erwartet hatte, weil die Instanz vom ZDF (Magazin Royale) ist und ich von einem professionellen Betrieb ausging. Da aber in den letzten Monaten scheinbar immer mehr Ressourcen und Medienhäuser sich in Richtung Mastodon bewegen, hoffe ich auf bessere Rahmenbedingungen.)

Manche behaupten, dass die Zeit sozialer Netzwerke und wie sie lange funktionierten ohnehin vorbei sei. Vielleicht ist da was dran. Das würde trotzdem nicht der Idee widersprechen, dass die Zeit reif und günstig für neue, bessere gesellschaftliche Lösungen sei. Dieser Beitrag ist eine Einladung darüber nachzudenken und vor allem mitzumachen, zu experimentieren, sich auf Neues einzulassen, sich von der Kund*innenrolle zu befreien und vielleicht ein soziales Netzwerke zu erreichen, in dem wir uns als Bürger*innen (neu) entdecken und begegnen.  

Immer mehr Lehrkräfte entdecken durch Digitalität, ihre Strukturen, aber auch als Thema den florierenden Bildungsmarkt für sich und verkaufen ihr Material im Netz, arbeiten vermarktbare Angebote aus oder sogar ganze Geschäftsmodelle. Das ist eine Entwicklung, die einige Fragen aufwirft und die es kritisch zu betrachten gilt.

Dass Lehrer:innen mit ihrer Arbeit (meist zu digitalen Themen) im Netz zusätzlich Geld verdienen (möchten), wird schon länger kontrovers diskutiert und ist komplexer, als es auf den ersten Blick scheint. Nicht selten geht es bei diesen Debatten eher um rechtliche und moralische (teilweise unklare) Grenzen und Perspektiven: Ob z.B. Leistungen im Rahmen ihrer Arbeit oder für ihren Unterricht erbracht und somit bereits vergütet wurden, was eine doppelte Abrechnung zumindest moralisch fragwürdig erscheinen lassen würde. Weshalb entscheiden sich aber Lehrer:innen überhaupt für den Schritt auf den Bildungsmarkt? Und welche Folgen hat dieses zunehmend populäre Vorgehen?

Motivationen, Werte und Wirkungen

Fragt man Lehrer:innen, weshalb sie für Material oder andere Angebote Geld verlangen, erhält man häufig die Antwort, dass sie Zeit und Expertise investiert haben und deshalb eine Gegenleistung erwarten (können). Klingt zunächst logisch und fair. Dass Menschen bereit sind, für ihr Produkt eine bestimmte Summe zu zahlen, ist außerdem eine (zugegeben besondere Form der) Wertschätzung und Rückmeldung zur Arbeit der Lehrkräfte, die in Schulen oft fehlt und hier sicher auch eine Wirkung entfalten kann. Hinzu kommt, dass Plattformen wie Lehrermarktplatz  (mittlerweile: eduki) diese Wege ebnen. Weshalb also nicht ein paar Euro zusätzlich verdienen? Außerdem sei so etwas eine persönliche Entscheidung und gehe niemanden etwas an.

Und doch ist es nicht so einfach, weil Motivation mit Werten zusammenhängt und diese wiederum mit Wirkungen. Eine Orientierung am Marktwert folgt einer anderen Logik als eine an Werten, die Lehrerinnen beruflich pflegen (oder zumindest sollten). Wahrscheinlich würde niemand widersprechen, seine Arbeit in der Schule an Werten wie (Bildungs-)Gerechtigkeit und Solidarität auszurichten. Wenn ich aber Geld verdienen möchte, generiere ich gezielt Produkte und Angebote, um daraus Kapital  schlagen zu können – was sich nicht mit den genannten Werten in der Schule deckt. 

Womit wir auch bei der Wirkung wären. Wenn ich z.B. mehr Bildungsgerechtigkeit wünsche, muss ich möglichst offene, diverse, kosten- und barrierefreie Angebote und Zugänge schaffen. Das widerspricht aber der Logik von Geschäftsmodellen wie Lehrermarktplatz bzw. eduki und vielen anderen. “Auf eduki teilen Lehrer*innen mehr als 150.000 selbst erstellte und erprobte Unterrichtsmaterialien” steht prominent auf der Seite, zusammen mit der Aufforderung “Material teilen”. Das ist kein Zufall. Damit wird ein Businessplan mit Werten einer Kultur des Teilens verkleidet, der dem völlig entgegenwirkt. Das ist keine Kultur des Teilens, sondern eine des Verkaufens. 

Gut, solche Angebote kosten etwas, dafür erhalten aber Lehrkräfte und Schüler:innen eine Hilfe, die ihnen scheinbar fehlt. Somit eine Win-win-Situation oder sogar noch mehr. Wird damit nicht die Bildung gerettet und geholfen, diese viel thematisierten “Lernlücken“ zu schließen? Das ist eine Geschichte und ein Bild, das von denen gezeichnet wird, die damit Geld verdienen. Die andere Perspektive ist, dass nicht die Bildung gerettet wird, sondern von Defiziten eines Bildungssystems profitiert wird – im wahrsten Sinne des Wortes. 

Was viele unter “Lernlücken“ verstehen, liegt bildlich sehr nahe beim Nürnberger Trichter. Dass die Köpfe junger Menschen mit Wissen befüllt werden und dass aufgrund des entfallenen Präsenzunterrichts nicht mehr bestimmte Wissensportionen von Lehrkräften eingetrichtert werden konnten. Es werden somit keine Lernlücken geschlossen, weil echtes (wirksames und nachhaltiges) Lernen nicht so funktioniert. Es wird damit höchstens eine fast 500 Jahre alte Vorstellung vom Lehren und Lernen digital konserviert. 

Die Logik des Bildungsmarkts hat aber auch weitere didaktische Konsequenzen: Auf Marktplätzen verkaufen sich diejenigen Materialien, die an bequemer Stoffvermittlung orientiert sind, besonders gut. Sie ersparen Lehrkräften Arbeitsaufwand und sind an die Lehrpläne vieler Bundesländer anknüpfbar. Dadurch entsteht aber Unterricht, der schematisch ist und Bedürfnisse der Schüler:innen ausblendet. Die Marktplätze sind dann nicht mehr eine Zweitverwertung ohnehin erstellter Unterrichtsmaterialien, sondern ein Anreiz, Unterrichtsmaterialien gezielt so zu erstellen, dass stofforientierter Vermittlungsunterricht mit wenig Aufwand möglich ist. Hier nutzen die entsprechenden Plattformen aus, dass viele Lehrkräfte zu wenig Zeit haben (oder sich zu wenig Zeit nehmen), um sinnvollen Unterricht vorbereiten zu können.  

Kultur des Teilens und (Unter)Nehmens

Bildungsgerechtigkeit ist aber nicht das einzige Argument, das für eine Kultur des Teilens spricht. Es ist kein Geheimnis, dass die zunehmende Komplexität unserer Welt das Teilen von Wissen und Können erfordert. Open Access, Open Data, Open Source, Open Government oder OER sind keine altruistischen Bemühungen, sondern eine Antwort auf die Komplexität unserer Zeit und Zukunft. Diese Kultur beinhaltet Offenheit, Transparenz, Partizipation und viele anderen Werte, die wenig bis gar nicht in der heutigen Arbeits-, Lehr- und Lernkultur zu finden sind. Diesen kulturellen Wandel einzuleiten und in der Breite zu erreichen, ist eine der größten gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen. 

Deshalb muss so eine Kultur des Teilens bereits in jungen Jahren gelernt und gelebt werden. Diese Aufgabe fällt damit auch auf Schulen und Lehrkräfte. Dass eine Schule keinen Automaten mit Chips und Cola aufstellen und gleichzeitig authentisch das Programm Gesunde Schule durchführen und kommunizieren kann, müsste für alle nachvollziehbar sein. So ähnlich verhält es sich mit der Vermarktung von Bildungsmaterial und -Angeboten von Lehrkräften.

Die Stärke der Kultur des Teilens ist gleichzeitig auch ihre Achillesferse. Alle können sich an Informationen, Expertise und Erfahrungen von anderen frei bedienen und die offenen Angebote für Informationen, Austausch und Vernetzung nutzen. Auf diese Weise, in Kombination mit Personal Branding, lässt sich Scheinexpertise aufbauen oder noch “besser“: in einer Kultur des Teilens erworbenem Know-how ein Preisschild anhängen.

Fazit 

Auch wenn die Idee sympathisch wirkt, dass es hier einen Kompromiss geben könnte, frei nach dem Motto: Das eine tun und das andere nicht lassen, bleibt das nur eine Wunschvorstellung. Die Logik des freien Marktes steht im völligen Gegensatz zu den Werten einer Kultur des Teilens und denen von Schulen. Sie schafft Grenzen und Exklusivität. Sie ist profitorientiert und nicht orientiert an Bildungszielen, dem Interesse von Lernenden oder sogar einer progressiven Bildung – im Gegenteil. So verkommen Begriffe, die für bestimmte Werte und Progressivität stehen, Teil einer Marketing-Strategie und zu Buzzwords. 

Und trotzdem muss man sich am Ende nicht für eine Seite, ein Vorgehen entscheiden. Es muss nur klar sein, dass hier entgegengesetzte Kräfte wirken. Wer tatsächlich etwas bewegen und Entwicklungen im Bildungsbereich unterstützen möchte, stößt nicht Veränderungen zuerst in eine Richtung an, um dann wieder in die entgegengesetzte Richtung zurückzusteuern. Wer authentisch eine Schule im digitalen bzw. kulturellen Wandel unterstützen möchte, schafft offene, transparente, partizipative und interdisziplinäre Netzwerke (vor Ort) und keine Geschäftsmodelle. So viel Ehrlichkeit darf sein. (Allerdings braucht es dafür auch Freiräume, Stellen, Geld und Kompetenzen: Das Bildungssystem darf nicht so aufgestellt sein, dass an entscheidenden Schnittstellen private Anbieter ohne sinnvolle didaktische oder pädagogische Konzepte Angebote platzieren müssen oder können. Ein progressives Bildungssystem macht diese überflüssig.) 

Da ich der Kultur des Teilens viel zu verdanken habe, sie mein Leben in den letzten Jahren geprägt und wie ich arbeite, lerne oder Menschen begegne, grundlegend gewandelt hat, steht für mich dauerhaft fest, in welche Richtung ich Veränderungen anstoßen möchte. (Nicht nur als Lehrer.) Ich lade deshalb alle neuen Kolleg:innen, die den Weg ins Netz gesucht und gefunden haben, herzlich ein, sich der Kultur des Teilens und ihrer Community anzuschließen. Wer Wissen nach ihren Werten teilt, vermehrt es, für alle.

„Ein Barcamp ist mal eine nette Abwechslung zu anderen Formaten. Aufgrund der 45-minütigen Sessions bietet es aber weder Vertiefung noch echte Qualität, letztlich bleibt es bei einer gut gemeinten „Schön, dass wir mal darüber gesprochen haben“-Veranstaltung.“ Diese Vorstellung und auch entsprechende Erfahrungen und Missverständnisse häufen sich. Sie hängen damit zusammen, dass in den letzten Jahren zunehmend Veranstaltungen als Barcamp bezeichnet wurden, die keine sind. Der Begriff dient einerseits als Etikett, mit dem Veranstaltungen verkauft werden, andererseits verstehen Veranstalter:innen zuweilen nicht, was ein Barcamp wirklich ist.

Barcamps werden ähnlich missverstanden wie digitale Endgeräte: Sie werden als Add-on gesehen, als ein neues Werkzeug bzw. eine weitere Methode. Das Transformative bleibt verborgen,es wird nicht erkannt, dass es eine andere, gewandelte Kultur entsteht. Barcamps sind eine Antwort auf eine immer komplexere Welt. Wer ein Tablet oder Smartphone nur dafür nutzt, um alte Arbeitsblätter zu digitalisieren, und sie nicht als Kulturzugangsgeräte versteht (wie sie Lisa Rosa vor Jahren treffend bezeichnet hat), wird auch ein altes Veranstaltungskonzept, das aus Workshops besteht, als Barcamp verkleiden und bewerben, ohne jemals die Idee verstanden und das Potenzial ausgeschöpft zu haben.

Wann ist also ein Barcamp ein echtes, ein gutes Barcamp, an welcher Stelle ergibt es einen Sinn und was kann es tatsächlich leisten?

Wann ist ein Barcamp ein Barcamp?

Wer Barcamp googelt, wird neben dem Wikipedia-Eintrag unzählige Beiträge finden, die meist nur beschreiben, was ein Barcamp ist, indem sie den Rahmen und die Regeln vorstellen. Hinter ihnen steckt aber eine Idee. Sie erfüllen einen Zweck und können mit dem richtigen Verständnis eine Flamme entzünden. Den Rahmen und die Regeln nur zu reproduzieren, reicht dafür allein nicht aus. Aus einem anfänglichen Format, das den Gegensatz zu klassischen Konferenzen abbilden sollte, haben sich über die Jahre ganze Communities und eine Kultur, wie miteinander gearbeitet und gelernt wird, entwickelt. Diese Barcamps verfolgen und bewirken eine Kultur (der Digitalität), die maximal selbstbestimmt, partizipativ, agil, gleichberechtigt, offen, transparent, kollaborativ und inklusiv ist. 

Barcamps sind divers, hinsichtlich der Teilnehmenden, der Themen und der Veranstaltungsorte. Dennoch hat sich ein organisatorischer Rahmen etabliert und es gibt verbindliche Regeln. Sie bilden einen Konsens und eine Orientierung, die ich wie folgt zusammenfassen würde:

Der Rahmen

Barcamp Lernräume 2019 – Foto Fionn Große

Ein Barcamp besteht aus mehreren Zeitschienen (sog. Slots), die jeweils 45 Minuten dauern, in denen verschiedene Sessions zeitgleich in unterschiedlichen Räumen stattfinden und auf die jeweils 15 Minuten Pause folgen. Die Sessions können als Impulsvortrag mit Diskussion, Workshop oder Diskussionsrunde zu einer Frage stattfinden. Das Programm, also welche Sessions von wem, wann und wo angeboten werden, wird erst vor Ort, am Tag des Barcamps, mit allen Anwesenden gemeinsam ausgehandelt. Es gibt dafür eine Moderation, die zu Beginn alle Barcamp-Regeln erklärt und danach Personen ihre Session-Vorschläge kurz vorstellen lässt. Wenn Anwesende Interesse an der Session haben, heben sie ihre Hand. Dann erhält eine Session einen festen Zeitpunkt und Ort im Programm. Davor gibt es meist eine schnelle Vorstellungsrunde.. Bei ganztägigen Barcamps gibt es eine Mittagspause. In der Regel wird den Tag über ein Buffet bzw. werden Essen und Trinken (kostenfrei) angeboten. Am Ende des Barcamps gibt es einen gemeinsamen Abschluss,oft in Form von einzelnen Rückmeldungen zum Tag. 

Die Regeln

  • Auf einem Barcamp wird geduzt.
  • Es gibt einen Hashtag, mit dem im Netz über das Barcamp gesprochen werden soll. 
  • Pro Slot werden in der Regel maximal so viele Sessions geplant, wie Räume vorhanden sind.
  • Eine Session findet dann statt, wenn sich außer der anbietenden Person mindestens eine weitere dafür interessiert.
  • Bei den Sessions steht der Austausch im Mittelpunkt, alle Teilnehmer:innen gestalten sie mit. Deshalb spricht man von Teilgerber:innen. 
  • Das Wesentliche einer Session wird protokolliert und das Protokoll veröffentlicht. 
  • Sessiongeber:innen suchen zu Beginn ihrer Session nach einer oder mehreren Personen, die protokollieren. 
  • Das Gesetz der zwei Beine besagt, dass Teilgeber:innen jederzeit eine Session verlassen, zu einer anderen wechseln oder die Zeit anders nutzen können.

Kultur der Digitalität und Kontrollverlust

Barcamp Lernräume 2019 – Foto Fionn Große

Da die Idee der Barcamps aus der Tech-Szene stammt, wurden sie von Beginn an in einer Kultur der Digitalität gedacht. Deshalb werden Protokolle häufig mit Etherpads von mehreren Personen kollaborativ, gemeinsam erstellt und Ideen, Fragen und Antworten aus den Sessions oder sogar gesamte Protokolle (über Etherpad-Links) mit dem Hashtag des Barcamps im Netz veröffentlicht. Sie bilden damit alle Merkmale einer Kultur der Digitalität ab: Referentialität, Gemeinschaftlichkeit und Algorithmizität. Dadurch, dass Informationen, Wissen und Anregungen während der Barcamps (meist über Twitter) im Netz geteilt, zugänglich gemacht und teilweise sogar Beteiligungen an Sessions ermöglicht werden, sind sie übrigens schon von Beginn an hybride Veranstaltungen gewesen und haben den transformierten Raum verstanden und berücksichtigt. 

Um ein „echtes“, gutes Barcamp zu erhalten, braucht es deshalb ein Commitment möglichst vieler und bestenfalls aller Beteiligten zur beschriebenen Kultur. Wo diese vorher schon vertreten und gelebt wird, können Barcamps ihr volles Potential entfalten. In Bereichen, in denen eher hierarchische Strukturen und intransparente Prozesse herrschen und normalerweise wenig bis keine Partizipation stattfindet, werden es (echte) Barcamps sehr schwer haben, weil sie einen Kontrollverlust bedeuten und entgegengesetzt zur vorherrschenden Lern- und Arbeitskultur stehen. So werden dort Veranstaltungen durchgeführt und auch als Barcamp bezeichnet, bei denen beispielsweise auf das Duzen verzichtet wird, das Programm schon Wochen im Voraus steht und Sessions aus 45-minütigen Vorträgen bestehen. Somit handelt es sich dabei um Schein-Barcamps.

Was kann ein Barcamp leisten?

„Ein Barcamp ist das, was ihr daraus macht“ ist häufig der letzte Hinweis, mit dem alle in die erste Session verabschiedet werden. Dadurch werden  der individuelle Gestaltungsraum, aber auch die Eigenverantwortung und die diversen Perspektiven deutlich. Wer ein Barcamp wie erlebt, hängt vom eigenen Handeln ab. Deshalb kann eine schlechte Erfahrung bei einem Barcamp entweder ein Indikator dafür sein, dass der Rahmen und die Regeln nicht eingehalten wurden, oder dass die notwendige Kultur nicht ausreichend gelebt wurde. Wer aus falsch verstandener Höflichkeit in Sessions sitzen bleibt, die ihn nicht interessieren, die Möglichkeit nicht nutzt, sich mit einer eigenen Session einzubringen oder sich in Sessions nicht beteiligt, kann eine negative Erfahrung machen, die teilweise selbstverschuldet* ist und nicht allein dem Barcamp zugeschrieben werden kann. Auch wenn das trotzdem häufig getan wird. 

(*Weil es nicht ausreicht, nur einen Raum für Beteiligung bereitzustellen, sondern Beteiligung ebenfalls gelernt werden muss, kann so eine Erfahrung auch nur teilweise selbstverschuldet sein.)

Barcamp Offenes Bildungsnetzwerk Freiburg 2020

Wer verstanden hat, dass und welche Kultur hinter Barcamps steckt, wird sie nicht als einzelnes Ereignis planen und einsetzen, sondern mit ihnen die bereits beschriebene Lern- und Arbeitskultur einführen, etablieren oder fortführen. Operativ bieten sie sich an, um Prozesse (in einem System) zu beginnen oder laufende zu reflektieren und daran weiterzuarbeiten. Sie bieten einen Raum für Dinge, die sonst keinen erhalten. Mit ihnen können Bedürfnisse und Bedarfe ermittelt werden. Barcamps können erfahrungsgemäß Kräfte freisetzen, Personen, die sich lange Zeit nicht beteiligt haben, reaktivieren und ein Gemeinschaftsgefühl erzeugen. Sie können für Gruppierungen und Themen, die sonst wenig miteinander zu tun haben, einen Begegnungsraum bieten. In einer Welt, in der die Komplexität der Herausforderungen stetig zunimmt, können Barcamps das leisten, was gesellschaftlich notwendig ist: Probleme interdisziplinär und multiperspektivisch zu erfassen und zu lösen.

Schulen und Barcamps 

Mit regelmäßigen Barcamps kann eine zeitgemäße Lern- und Arbeitskultur in Schulen erreicht werden. Sie eignen sich als pädagogische Tage des Kollegiums, als Elemente einer wirksamen und nachhaltigen Schulentwicklung, als Schultage mit allen an Schule Beteiligten, die auch für Externe geöffnet werden können oder als Lern- und Arbeitsform im Unterricht einer Klasse oder Stufe sein. Mein konkreter Vorschlag wäre, ein Schuljahr mit einem monatlichen Schultag als Barcamp zu beginnen und perspektivisch auf einen wöchentlichen hinzuarbeiten. Einen Teil der Konferenzen würde ich durch Barcamps ersetzen, wie auch pädagogische Tage und würde sie auch vermehrt nutzen, um sich mit externen Expert:innen und anderen Schulen aus der Umgebung (und darüber hinaus) stärker auszutauschen und zu vernetzen.

(Mit dem Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung werden in Baden-Württemberg ab nächstem Schuljahr auch im Fortbildungsbereich Barcamps eine deutlich stärkere Rolle spielen.)

Bitte und Einladung

Nach diesem Beitrag müsste nun klar sein, dass es wesentlich vom Verständnis und Handeln der Organisationsteams, aber auch der restlichen Anwesenden abhängt, wie viel Barcamp in einem Barcamp steckt und was es tatsächlich leisten kann. Als jemand, der seit vielen Jahren nicht wenig Zeit und Kraft investiert, im Bildungssystem oder im kommunalen Raum eine gewandelte Lern- und Arbeitskultur einzuführen, zu etablieren und fortzuführen, bitte ich darum, Veranstaltungen nicht Barcamp zu nennen, wenn nur einzelne Elemente davon darin vorkommen und es sich aus PR-Gründen anbietet. Dieses Vorgehen reduziert Barcamps nicht nur zu einem Buzzword, sondern verbaut auch zukünftige Chancen und hemmt notwendige Veränderungen. Durch die Erfahrung mit Schein-Barcamps schwinden bei Menschen das Interesse, die Bereitschaft und die Gelegenheiten, echte Barcamps zu besuchen, durchzuführen und eine zeitgemäßen Lern- und Arbeitskultur kennenzulernen.

Wer sich fragen sollte, wo man denn nun so ein echtes Barcamp erleben kann, lade ich herzlich zum Barcamp Lernräume in Freiburg ein. Ansonsten lege ich für die EduCamps oder die Edunautika in Hamburg meine Hand ins Feuer. Es gibt aber unzählige Barcamps, die sehr gut sind und auch nicht mit Bildung zu tun haben. Meldet euch einfach an und sammelt am besten eigene Eindrücke und Erfahrungen. Mit diesem Beitrag habt ihr eine Möglichkeit, euch zu orientieren, falls ihr ein Barcamp besucht oder selbst eines durchführen möchtet. Wer sich vertieft mit der Thematik auseinandersetzen möchte, findet hier im OER-Buch Barcamps & Co. von Jöran Muuß-Merholz zahlreiche Tipps, Hinweise und Checklisten. Möge die Barcamp-Flamme in euch entzündet werden.

(Wer eine konkrete Unterstützung oder Beratung wünscht, kann sich an ein erfahrenes Team von freiburg_gestalten wenden. Wir haben dort schon in vielen Kooperationen mit Städten, Hochschulen oder Vereinen diverse Barcamps durchgeführt.)