Zum 27. Februar hatte der Bundeskanzler einen kleinen Kreis von Freiburger*innen zu einem Gespräch in die Lounge des SC Freiburg eingeladen. Spätestens nachdem er auf seinem Insta-Account ein Beitrag gepostet hatte, in dem er mich erwähnte, wurde ich von nicht wenigen Freunden und Bekannten angeschrieben und gefragt, wie das Gespräch (inhaltlich als auch auf menschlicher Ebene) verlief, aber auch wer sonst noch, wie und weshalb für diesen Austausch ausgewählt wurde. Zudem erhielt ich auch kritische Anmerkungen an sich. Dieser Beitrag soll die meisten dieser Fragen klären und ist gleichzeitig eine persönliche Reflexion der 100 Minuten mit dem Bundeskanzler.
Einladung
Vor zwei Wochen erhielt ich eine Einladung vom Team Dialog des Bundeskanzleramts, in der erklärt wurde, dass sich der Bundeskanzler Olaf Scholz in Freiburg vor Ort einen persönlichen Austausch bzw. Perspektiven und Impulse von gesellschaftlich engagierten Bürger*innen zu folgenden drei Fragen wünscht:
1.) Was macht den Zusammenhalt in Freiburg aus?
2.) Wie stärken wir die Demokratie vor Ort gegen die, die sie schwächen wollen?
3.) Wie interessieren wir andere dafür, sich für die Gemeinschaft und das Gemeinsame konkret vor Ort stark zu machen und die Gemeinschaft aktiv mitzugestalten?
Das Ziel des Gespräches sei es, Denkanstöße für die gesellschaftliche Debatte und die Arbeit der Bundesregierung aufzunehmen. (Vor Ort erfuhr ich von den anderen, dass ich nicht der einzige war, der die Einladung für nicht echt und ein Produkt digital affiner Freunde oder Spam hielt.)
Ich weiß bis heute nicht, weshalb ich eingeladen wurde. Meine Vermutung ist, dass es daran lag, dass mein Name wegen der dritten, großen Kundgebung der vielen Demokrat*innen in Freiburg in der Zeitung stand. Ich lebe seit 26 Jahren in Freiburg und kenne viele Bürger*innen, die sich wahrscheinlich deutlich länger und stärker in der Region als ich engagieren. Somit kann ich verstehen, dass der Auswahlprozess manche beschäftigt oder Unmut ausgelöst hat, dass sie nicht die Möglichkeit für ein Gespräch mit dem Bundeskanzler erhalten haben.
(Aus meiner Sicht wurde sich bemüht, eine ausgewogene und diverse Runde zu erstellen. Luft nach oben gibt es natürlich immer. Die fehlende Transparenz habe ich als Resultat der Sicherheitsvorkehrungen und knappen Zeit verstanden.)
Was können 100 Minuten mit dem Bundeskanzler leisten?
Nicht viel und viel. Als erstes sind sie ein Zeichen von Wertschätzung. Sich so viel Zeit für Bürger*innen zu nehmen und sich allen Fragen und Aussagen zu stellen, ist nichts Selbstverständliches, weil die Zeit bei so einem Amt sehr kostbar ist. Dass die Presse nicht anwesend sein durfte, habe ich als weitere Wertschätzung der Bürger*innen verstanden, weil sich so über diesen längeren Zeitraum in einem „geschützten Rahmen“ eine Atmosphäre entwickeln konnte, die zu mehr Offenheit und Ehrlichkeit führte. Wurden anfangs konkrete Ideen und Ansätzen von Initiativen, Organisationen und Personen vorgestellt, nahmen zunehmend Botschaften der Bürger*innen an den Bundeskanzler und die Bundesregierung den Raum ein.
Persönlich hatte ich mir im Vorfeld ein, zwei Punkte überlegt, die ich je nach Stimmung und Gelegenheit, dem Bundeskanzler mitgeben wollte. Das konnte ich, weil sie zu den Aussagen der anderen Freiburger*innen passten und sich gut ergänzten. Dabei ging es u.a. um den Wunsch, die Arbeit rund um politische Bildung und Demokratiebildung in und außerhalb von Schule deutlich stärker und vor allem nachhaltiger zu fördern. Auch, dass beim DemokratieCamp nur wenige Tage zuvor und in der gleichen Räumlichkeit die Frage gestellt wurde, wer und weshalb nicht gekommen war, um sich zu beteiligen. Ich verwies darauf, dass es sich dabei oft um strukturelle Probleme handle, weil Menschen schlicht die Kraft und Zeit fehle, sich ehrenamtlich zu engagieren, wenn sie in prekären Lebensumständen feststecken würden und dass die meisten dieser Baustellen eine bundespolitische Lösung erfordern.
Zuletzt ging es mir um Migration, welchen Stellenwert dem Thema zugesprochen wird, wem es nutzt und vor allem welches Menschenbild hier von ihm und anderen gezeichnet wird und welche konkreten Folgen das für Millionen von Menschen im Alltag hat. Es wurde auch angesprochen, dass der Blick auf die Ursachen von Migration gerichtet werden muss, um hierzu eine ehrliche Auseinandersetzung führen zu können. Die kleine Runde der Freiburger*innen war sich (meiner persönlichen Wahrnehmung nach) einig, dass uns eint, für ein Menschenbild einzustehen, das allen ein Leben in Würde ermöglicht und wir uns wünschen, dass dieses Bild auch vom Bundeskanzler und der Regierung gezeichnet und kommuniziert wird.
Je mehr ich darüber nachdenke, was alles von wem gesagt wurde, stelle ich fest, wie viel Zeit und Raum 100 Minuten bieten. Spannend fand ich auch die Einigkeit der Gruppe, dass es noch mehr und regelmäßig solche Möglichkeiten für einen Austausch und eine Vernetzung der Stadt und Region rund um das Thema Demokratie stärken und schützen braucht. Auch ohne den Bundeskanzler.
„Wie haben Sie Olaf Scholz als Mensch erlebt?“
Diese Frage stellten nicht nur Journalist*innen nach dem Gespräch mit dem Bundeskanzler. Was kann man über einen Menschen sagen und lernen, mit dem man 100 Minuten (ohne Kameras) verbringen durfte? Nicht viel und viel. Je offener und ehrlicher die Debatte wurde, umso mehr Einblicke in seine Denkweise und Haltung konnte man erhalten. Was er auf meine Fragen und Aussagen geantwortet hat, möchte ich nicht schreiben, weil ich den eigenen Ansprüchen, hier korrekt zu sein, nicht gerecht werden würde (und es auch aus diversen Gründen schwierig finde). Meinen Eindruck von ihm als Mensch, als Resultat seiner Antworte, kann ich aber schildern.
Wer mich kennt, weiß, dass ich kein großer Fan von Olaf Scholz bin. Manches, was er macht und sagt oder auch nicht, deckt sich nicht mit meinen politischen Vorstellungen oder den Erwartungen und Wünschen. Trotzdem muss ich auch zugeben, einen Menschen erlebt zu haben, der überzeugt ist, dass Richtige und in diesem Kontext auch alles Mögliche zu tun. Seine Begründungen und Denkweise folgten einer juristischen Logik. Ich hatte deshalb nicht den Eindruck, ihn mit meinen Worten menschlich erreichen zu können. Und das nicht, weil er es nicht zugelassen oder gewünscht hätte. Seine Offenheit und Ehrlichkeit habe ich als authentisch wahrgenommen. Das schätze ich sehr und verdient Respekt. Ich bin auch sehr dankbar für die Gelegenheit, überhaupt meine Perspektiven eingebracht haben zu dürfen.
Ich schreibe das auch, weil mich schon länger der Umgang mit Politiker*innen und wie sie wahrgenommen werden beschäftigt. In den letzten Jahren habe ich einige kennengelernt und Einblicke in Ihre Arbeit und ihren Alltag erhalten. Meiner Erfahrung nach stecken sie ebenfalls, wie die meisten anderen, in überholten Systemen fest. In der Regel ist ein politisches Ergebnis nur ein Kompromiss eines langen steinigen Weges. Deshalb erwarte ich auch keinen Wandel von oben. Der Bundeskanzler selbst meinte, auf die Bürger*innen und ihr Engagement zu setzen, wenn es darum ginge, die Demokratie zu stärken und zu schützen. Hier stimme ich ihm voll zu und hoffe, dass es gelingt, die demokratische Bewegung der Zivilgesellschaft der letzten Wochen zu verstetigen.
(Ergänzende Randnotiz: Den Unmut, die Wut und Sorge, die viele aufgrund großer, drängender und komplexer Probleme spüren, kann ich gut nachvollziehen. Jedoch nichts davon rechtfertigt, die zunehmende Aggressivität und Gewalt gegenüber Politiker*innen der letzten Monate und Wochen, die eine Schwächung der Demokratie darstellen. Vielleicht kann durch die aktuelle demokratische Bewegung eine Möglichkeit geschaffen werden, eine Debattenkultur einzuführen und zu etablieren, die eine Demokratie stärkt.)
Demokratie unter Druck lautete der Titel einer Tagung der Landeszentrale für politische Bildung, bei der letzten Dienstag und Mittwoch die Herausforderungen der politischen Bildung bzw. Demokratiebildung für Gesellschaft und Schule aus “diversen“ Perspektiven betrachtet und im Anschluss diskutiert werden sollten. Prof. Dr. Wolfgang Sander (von der Justus-Liebig-Universität Gießen) erläuterte dabei in seinem Vortrag ausführlich, welche Gefahren für eine Demokratie von einer aktivistischen “Wokeness-Bewegung“ ausgehen würden, die lächerliche Diversitätsforderungen stelle, Student:innen zum Gendern zwingen möchte, einen Identitätskampf führe, Sprachverbote verhänge und Cancel Culture betreibe. Die Ausführungen von Sander stießen bei einigen Anwesenden auf Resonanz, sie hielten flammende Reden, weshalb sie nicht mehr das Z- oder N-Wort sagen dürfen (wobei sie es ausgesprochen haben).
Direkt nach seinem Vortrag hielt ich eine Gegenrede. Manche Lehrkräfte schlossen sich meiner Kritik an. Später hielten meine Kollegin und ich unseren Impulsvortrag, den wir in der Zwischenzeit um ein paar Folien verändert hatten, um einige Aussagen von Herrn Sander besser einordnen zu können. Um besser zu verstehen, was vorgefallen war, tauschte ich mich in den letzten Tagen mit einigen Personen zum Geschehen aus. Ein Fazit dieser Gespräche war, dass der Verlauf der Tagung widerspiegelt, wie viele Debatten rund um Demokratie/-bildung geführt werden, unter welchen Rahmenbedingungen das stattfindet und welche Hürden es zu überwinden gilt.
Weil ich denke, dass das häufiger, ehrlicher und öffentlicher diskutiert werden sollte, fasse ich hier einige wesentliche Gedanken und Fragen zusammen. Dieser Beitrag ist keine Replik auf den Vortrag von Wolfgang Sander. Es geht im Prinzip nicht einmal um ihn oder diese konkrete Tagung. Beides steht nur stellvertretend für Probleme und Konflikte, die vielerorts existieren und stattfinden.
Demokratie unter Druck?
Wer diskutieren möchte, ob sich eine Demokratie in einer Krise befindet, muss nicht nur zuerst definieren, wann von einer Krise gesprochen wird, sondern auch klären, was unter Demokratie zu verstehen ist. Eine zentrale Frage dazu lautet: Wer bestimmt, wann eine Krise vorliegt und was demokratisch ist?? (Wie ein Ergebnis auf diese Frage aussehen kann, zeigt diese Visualisierung zur Wahl in Berlin.) Bei einer Tagung kann es aufschlussreich sein, sich die Redezeiten der Beiträger:innen anzusehen.
Meine Kollegin und ich erhielten am Nachmittag 20 Minuten für einen kurzen Impulsvortrag, um unsere Expertise und Perspektive aus der Praxis zur Demokratiebildung an Schulen vorzustellen. Auf einer Folie bildeten wir Namen, Foto und jeweilige Redezeiten der Referent(:inn)en ab. (Alles Infos, die wir dem Flyer zur Veranstaltung entnahmen.) Manchmal kann eine Kombination aus Bild und Text eine besondere Wirkung entfalten und zum Reflektieren anregen.
Was von uns in der Planung als freundlicher (und humorvoll verpackter) Hinweis (dass mehr Personen mit dem Vornamen Wolfgang als Frauen bei der Tagung vortragen) und Einladung an alle gedacht war, auch das eigene Denken und Handeln stets kritisch zu hinterfragen, sollte die Fortführung einer Auseinandersetzung werden, die zuvor durch den Vortrag von Sander ausgelöst wurde.
Wenn Wokeness und nicht Rassismus das Problem ist
Sander erhielt eine gute Stunde Zeit, um seine Gedanken auszubreiten, vor welchen Herausforderungen Gesellschaft und Schulen im Kontext der politischen Bildung stehen. Nach einer kurzen Einführung zum Druck auf die Demokratie durch Extremismus, widmete er die meiste Zeit seiner Ausführungen der aktivistischen ‚Wokeness‘-Bewegung. Es würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, alles aufzuführen und auf jeden Aspekt einzugehen. Zwei Punkte, die genau so auf einer seiner Präsentationsfolien standen, möchte ich aber exemplarisch aufführen:
Behauptung, Diskriminierungen seien (intersektional) miteinander verknüpft und bildeten ein apersonales Gewebe von Machtstrukturen, das sich über Sprache (‚Diskurse‘) und daraus entstehende Normalitätsvorstellungen vermittle und absichere. Beispiel: Rassismus sei eine machtförmige Struktur, ein „weißes Dominanzsystem“, „sodass die Imagination von rassismusfreien Räumen nicht möglich ist.“ (Karim Fereidooni)
Allein anhand der einfachen oder auch halben Anführungszeichen (‚…‘), die genutzt werden, um eine wissenschaftlich unübliche Bezeichnung (u.a. Umgangssprache) darzustellen, kann man erahnen, was zu den Punkten gesagt wurde. Es wurde so dargestellt, als könne und würde man Diskriminierungen frei erfinden und so eine endlos lange, künstliche Liste erzeugen. Beim zweiten Punkt wird es noch deutlicher, weil alles Beschriebene direkt zu Beginn als Behauptung abgewertet wird. Aussagen von Karim Fereidooni (dessen Name übrigens auf der Präsentation von Sander falsch geschrieben wurde) wurden meiner Erinnerung nach nicht richtig oder in einem verzerrenden Kontext wiedergegeben.
Sander machte sich darüber lustig, dass scheinbar alle rassistisch sozialisiert sein sollten, dass es keinen Rassismus gegen Weiße geben könne und deutete an, dass Karim Fereidooni nicht (so richtig) wissenschaftlich arbeiten würde. Fachliteratur zu Rassismus entwerte er als Szene-Literatur, als sei das etwas, das in irgendwelchen Clubs gehandelt wird. An Empirie würde es hier fehlen. Er verspottete Betroffene von Rassismus, indem er sagte, dass sie für sich beanspruchen würden, zu bestimmen, was rassistisch sei und man allein daran ableiten könne, wie unsachlich und lächerlich diese Debatte sei.
Woke vs. Wissenschaft
Es folgten unzählige Ausführungen und Anekdoten darüber, dass nur noch schwule Personen in Filmen Schwule spielen dürfen, dass an einer Hochschule Student:innen eine Benachteiligung bei der Notengebung erfahren, wenn sie nicht gendern, dass Wörter und Literatur verboten und Straßennamen geändert werden, dass Personen wegen der aktivistischen ‚Wokeness‘-Bewegung gecancelt werden und den Job verlieren und vieles mehr. Außerdem verhöhnte er die Forderung nach Diversität, da auch hier die Liste endlos und deshalb am Ende überhaupt nicht umsetzbar sei, Gremien, Panels oder sonstige Gruppierungen immer mit einer Frau, einer migrantischen oder einer behinderten Person usw. zu besetzen.
Sander wollte deutlich machen, dass er die hohe Kunst der Wissenschaft, Sachlichkeit, Empirie, sowie Haltung und Werte der Demokratie vertrete und die aktivistische ‚Wokeness‘-Bewegung das genaue Gegenteil davon darstelle. Die Woken agierten moralisch und quasi-religiös aufgeladen (wobei es dadurch mehr um Glauben statt Wissen geht) und übten Druck auf die Demokratie aus, indem sie die Politik moralisieren (wobei nicht Argumente zählen, sondern die richtige Seite bzw. ihre), Rederechte- und verbote erteilt werden, die Repräsentation durch Quotierungen (Diversität und so) bedroht und eine antiwestliche Grundhaltung eingenommen wird.
Folgen
Als jemand, der von klein auf immer wieder Diskriminierungserfahrungen gemacht hat und sehr wahrscheinlich bis an sein Lebensende machen wird, war es an vielen Stellen verletzend und grenzüberschreitend, was bei der Tagung gesagt wurde. Weil ich seit vielen Jahren regelmäßig mit der Landeszentrale für politische Bildung als Lehrer, Fortbildner oder Referent für Demokratiebildung und SMV kooperiere und ihre Arbeit sehr schätze, hatte ich mit so einem Verlauf der Tagung nicht gerechnet und wurde überwältigt.
Druck auf Demokratie
Dass jemand auf die Idee kommt, die Bedrohung für eine Demokratie bei Personen zu sehen, die sich für eine Gesellschaft engagieren, in der niemand aufgrund seiner Hautfarbe, Religion, Nationalität oder anderer Merkmale benachteiligt, ausgegrenzt oder sogar ermordet wird, ist mehr als irritierend. Und das, während immer wieder über rechtsextreme Personen bzw. (Chat-)Gruppen bei der Polizei, beim SEK, bei der Bundeswehr, Feuerwehr, beim BND oder in der Justiz berichtet wird. Ganz im Gegenteil – die strukturellen und institutionellen Probleme wurden von ihm relativiert oder negiert.
Prof. Dr. Sander wurde als Koryphäe der politischen Bildung vorgestellt und dass jede:r Gemeinschaftskundelehrer:in seine Bücher gelesen, studiert habe. Sein Wort und sein Ansehen haben Gewicht. Oder zumindest hatten sie es einmal. (Was eine mögliche Erklärung für das Abdriften sein könnte.) So schließt sich der Kreis zur Anfangsfrage, wer bestimmt, was eine Krise ist, ob es sich um eine handelt, welche Demokratie diskutiert werden soll oder was demokratisch ist. Mit seinem Vortrag (und seinen Antworten auf Fragen im Anschluss) erhielt Sander bei dieser Tagung viel Zeit und Raum, den gedanklichen Rahmen zu setzen und Fokus zu legen.
Weil ich fassungslos während seines Vortrags über seine Aussagen bei Mastodon und Twitter schrieb, erhielt die Sache mehr Aufmerksamkeit. Natürlich auch durch diesen Beitrag. Falls dadurch morgen jemand beschließen sollte, ihn nicht mehr als Redner einzuladen, würde er das wahrscheinlich als Canceln beschreiben. Durch seine Erzählung und Logik macht er sich frei von jeglicher Kritik. (Canceln meint meiner Erfahrung nach ohnehin in den meisten Fällen, weiterhin etwas sagen und tun zu können, ohne Widerspruch und Widerstand zu erhalten.) So wird dann etwas von Grund auf Demokratisches, sich kritisch mit Istzuständen und Aussagen auseinanderzusetzen, als etwas Undemokratisches bezeichnet. Demokratie wird so zu einem willkürlichen Begriff, der nur noch die Deutungshoheit privilegierter Personen meint.
(Die letzten beiden Teile seiner Vortrags, in denen er auf die „Transformation der Öffentlichkeit durch Digitalisierung” und „Autoritätsdistanz durch Egozentrismus” einging, habe ich nicht aufgegriffen, weil sie keine Relevanz für das Geschilderte haben und auch ähnlich unterkomplex, einseitig oder verzerrend waren.)
II. Lösungsansätze
Erwartungen und Ansprüche
Wie die knapp 30 Personen bei der Tagung reagierten, spiegelt viele solche Ereignisse wider. Ein paar Lehrkräfte äußerten sich ebenfalls kritisch, in etwa gleich viele ihren Zuspruch und die meisten schwiegen oder verhielten sich vermeintlich neutral. (Wobei ich davon ausgehe, dass jede Person, die dort erschienen war, über das Grundwissen verfügte, dass es hier kein neutral gibt.) In den Pausen wurde dann viel in kleinen Gruppen diskutiert. So bekam ich auch von Einzelnen gesagt, wie wichtig meine Gegenrede gewesen sei. Unter vier Augen. Nicht im Plenum.
Auch wenn der Austausch mit Sander bzw. dem Gesagten zwar mehr Zeit erhielt als geplant, wurde danach das Programm fortgesetzt und (zu) viel blieb ohne Einordnung, ungesagt und ungeklärt im Raum und überdeckte den weiteren Verlauf. Die wichtige, kontroverse und kritische Debatte wurde nicht geführt. Bevor ich darauf eingehe, welche andere Lösungen möglich gewesen wären, möchte ich ein paar Fragen aufwerfen und den Lesenden (zur kritischen Selbstreflexion oder Planung) mitgeben, die mich seither beschäftigen:
Wie verhalte ich mich als Teilnehmende:r und als Organisator:in bei einer Veranstaltung, wenn Grenzen überschritten werden? Wer bestimmt die Grenzen? Wie können möglichst günstige Rahmenbedingungen geschaffen werden, damit bestimmte Grenzen nicht überschritten werden? Wie kann man Moderator:innen darauf vorbereiten? Wie lange werden Dinge toleriert, relativiert oder ignoriert, weil sie von einer Person kommen, die einst ein hohes, höheres Ansehen genoss oder eine bestimmte Leistung erbracht hat?
Ob, wann und wie jemand einschreitet bzw. agiert, muss jede Person für sich selbst entscheiden. Das hängt von vielen Faktoren ab: Wissen, Kraft, Charakter, Haltung, Rolle, Setting und vieles mehr. Es kostet natürlich Überwindung, sich in so einem Plenum wie bei der Tagung kritisch zu äußern, weil es dadurch unangenehm wird. Für alle. (Was dabei oft ausgeblendet wird, dass es in solchen Situationen zuvor nur für Betroffene unangenehm war. Für sie ist z.B. Rassismus kein Thema, das sie sich für eine Unterhaltung aussuchen, sondern prägt ihr Leben, teilweise täglich.)
(Mich kostet es jedes Mal einiges an Kraft, diese (auch emotionale) Arbeit zu leisten. Von Diskriminierungen Betroffenen wird übrigens oft erwartet, eine Aufgabe zu übernehmen, die nicht ihre, sondern die aller (Anwesenden) ist, wie z.B. sich zu Themen rund um “Ismen” selbst fortzubilden.)
Wer eine Veranstaltung organisiert, bestimmt den Rahmen und Inhalt. Soziale Netzwerke haben durch Transparenz und Kritik auch einen Beitrag geleistet, dass Podien diverser und Veranstaltungen partizipativer sind. Bei Prof. Dr. Sander hätte ein Blick auf seine Website oder seine Social-Media-Accounts und den dortigen letzten Veröffentlichungen geholfen, herauszufinden, wem man womit einen Raum geben wird. Hier hätte sich etwas mehr Recherchearbeit gelohnt.
Als jemand, der selbst viele Veranstaltungen (auch zum Thema Demokratie) plant und durchführt, habe ich mich immer wieder in Situationen erlebt, in denen ich schnell eine Entscheidung treffen musste, die alle Anwesenden betraf. Das war nie einfach. Dabei mussten unzählige Dinge abgewogen werden. Nicht immer gelingt es dabei, alles richtig zu machen. Manchmal helfen aber solche Erfahrungen, den eigenen Blick zu schärfen, wofür man einsteht und was man erreichen möchte.
(Vielleicht hätte ich nach dem Vortrag von Prof. Dr. Sander die noch ausstehenden Referent:innen und Teilnehmer:innen gefragt, ob wir in einen offenen Austausch gehen, in Gruppen und im Plenum. Damit eine wesentliche Debatte geführt werden kann, von und mit den Lehrkräften, die diese morgen in ihrer Schule mit ihren Klassen, ihrem Kollegium und den Eltern ihrer Schüler:innen führen. Das ist aber hinterher immer einfach gesagt.)
Was kann Schule leisten?
Die Realität, auf deren Grundlage Herausforderungen der politischen Bildung bzw. Demokratiebildung für Gesellschaft und Schule diskutiert werden, zeichnet ein gegenteiliges Bild zu den oben erläuterten Ausführungen der Tagung. Junge Menschen erfahren Rassismus, werden institutionell diskriminiert und Lehrkräfte müssen mit Literatur arbeiten, die Rassismus reproduziert und Menschen verletzt. Ein zentrales Problem dabei ist, dass Diskriminierungen von zu vielen Menschen nicht gesehen und erkannt werden. (Weshalb Dominik Lucha u.a. diesen Instagram-Account zu Alltagsrassismus erstellt hat.)
Natürlich steigt in einer sich ständig wandelnden Gesellschaft der Wunsch, aber auch die Notwendigkeit nach Veränderungen. Das betrifft ebenfalls demokratische Strukturen und Prozesse, die an manchen Stellen immer weniger bis gar nicht mehr funktionieren. Für Menschen, die dabei einen Machtverlust befürchten, müssen Forderungen nach Gleichberechtigung, Mitsprache und Mitbestimmung wie eine große Gefahr wirken. Da Schulen an sich einen Raum und ein Konzept darstellen, in dem die Macht klar und hierarchisch angelegt ist, wirkt jede Bemühung nach mehr Beteiligung junger Menschen dem System entgegen und erfährt Widerstand.
Trotz mancher ungünstiger Bedingung machen sich (meiner beruflichen Erfahrung nach) immer mehr Schulleitungen und Lehrkräfte auf den Weg, weil sie im Kontext der globalen Krisen eine demokratische Verantwortung sehen und annehmen. Sie möchten jungen Menschen an ihrer Schule ermöglichen, dass sie mehr Demokratie erfahren, (er)leben können. Das gelingt besonders gut, wenn alle am Schulleben Beteiligten partizipieren können, ein wirksamer und nachhaltiger Prozess angegangen (was am Ende auf eine Frage der Ressourcen und Priorität hinausläuft), von möglichst vielen getragen und von einer diversen Gruppe koordiniert wird.
Im Ethikunterricht diskutieren wir viel über komplexe gesellschaftliche Themen, über die öffentlich kontrovers gestritten wird. Die Schüler:innen sind dabei entweder gut informiert oder interessiert, Neues zu lernen und andere Perspektiven zu erfahren. Der Konsens im Raum lautet: Wir wissen, nicht immer alles richtig zu machen, benennen offen Probleme, suchen gemeinsam nach Lösungen, gestehen Fehler ein, entschuldigen uns und arbeiten zusammen daran, es für alle besser zu machen. Das gilt für alle Schüler:innen, wie auch für mich als Lehrkraft.
So ein beschriebener Aushandlungsraum erfordert ein Umdenken und einen Rollenwandel bei allen Beteiligten und kostet viel Zeit, Kraft und gegenseitiges Vertrauen. Es ist meiner Erfahrung nach aber ein wirksamer Ansatz, wie junge Menschen lernen, Verantwortung zu übernehmen, Probleme zu lösen, sich als selbstwirksam erfahren, konstruktiv miteinander streiten und einen Konsens aushandeln lernen. Demokratie ist kein Endzustand, sondern muss immer wieder neu erkämpft werden. Was junge Menschen dazu in der Schule lernen, wird die zukünftige Gesellschaft prägen.
Wer sich im Web bewegt, begegnet zwangsläufig auch den Herausforderungen, die Informationen im digitalen Wandel darstellen. Dabei spielen neben der zunehmenden Menge auch die Geschwindigkeit und der Wahrheitsgehalt eine bedeutende Rolle. Die Folgen gezielter Missinformation, mit unterschiedlichen Absichten, werden mehr oder weniger bewusst wahrgenommen und führen zu einer Suche nach Lösungsansätzen, wie man dieser Entwicklung mündig begegnen kann. Philippe Wampflers neues Buch Schwimmen lernen im digitalen Chaos bietet eine hervorragende Grundlage für eine Debatte und gesellschaftliche Aufgabe unserer Zeit, wie Kommunikation trotz Nonsens gelingen kann. Mit der gesellschaftlichen Perspektive möchte ich auch darauf hinweisen, dass sich dieses Buch an alle richtet und es dementsprechend empfehlen. Ich sehe mich an dieser Stelle in einer dreifachen Verantwortung: Als Vater, Teil der Gesellschaft und Lehrer mit Bildungsauftrag. Für alle drei Bereiche finden sich hilfreiche Hinweise und Ratschläge.
In diesem Buch findet sich nicht nur eine Sammlung von praktischen Tipps, wie das Schwimmen im digitalen Chaos gelingen kann, ich versuche auch, Nonsens genau zu erfassen und die wesentlichen psychologischen und auch technischen Zusammenhänge so aufzuzeigen, dass Leserinnen und Leser eigene Schlüsse aus den abgegebenen Ratschlägen ziehen können.
Dieses Versprechen, das Philippe zu Beginn des Buches abgibt, wird in folgenden fünf Kapiteln
Das Problem verstehen
Wie Nonsens im Netz entsteht
Was uns für Nonsens anfällig macht
Schwimmen im Nonsens – ein Programm
Nonsens und die Zukunft der digitalen Kommunikation – ein Ausblick
erfüllt. Indem er zuerst die Probleme offenlegt und benennt, ihre Dynamik transparent machen, psychologische Aspekte aufführt, mögliche Lösungsstrategien bietet und einen Ausblick wagt, gelingt ihm zu diesem Themenfeld ein Rundumschlag, der ein Grundverständnis bietet und kritische Auseinandersetzung ermöglicht. Die zahlreichen und konkreten Beispiele über Nonsens, Hoaxes oder Fake News machen den komplexen Sachverhalt allgemein zugänglicher bzw. verständlicher, so dass auch Menschen ohne größeres Vorwissen über das Web sich gedanklich zurechtfinden bzw. orientieren können. (Die gedruckten Screenshots und Link-Angaben versprühen ein wenig Blog-Geruch auf dem Papier.) Wer erfahren möchte, weshalb Fake News, die sich gegen Trump richten, nicht geteilt werden sollte und sie nicht gerecht, sondern gesellschaftlich bedenklich sind, wird im Buch Antworten darauf finden. Gewohnt nüchtern und präzise analysiert Philippe neben der Welt, die uns täglich im und außerhalb des Netzes begegnet, nicht nur die Möglichkeiten und gesellschaftliche Verantwortung der Mitgestaltung, sondern auch deren Grenzen. Wie erfolgreiche Kommunikation in der digitalen Transformation gelingen kann wird uns noch längere Zeit beschäftigen. Philippe hat aus meiner Sicht dazu einen sehr lesenswerten Beitrag geleistet.
Anmerkungen
Ich möchte nicht zu viel verraten, aber mein persönliches Tool-Highlight ist die Empfehlung des Baukastens für Verschwörungstheorien von Michael Lenzinger. Den werde ich auf jeden Fall in meinem Unterricht einsetzen. Womit ich mich inhaltlich die nächsten Wochen näher beschäftigen werde, ist diese Bullshit-Website. Da ich Philippes Arbeit näher verfolge und im regen Austausch mit ihm stehe, war mir der eine oder andere Hinweis und Gedanke bereits bekannt. Trotzdem haben mir die Zerlegung und erneute Zusammensetzung geholfen, mein bisheriges Wissen (neu) zu ordnen und zu strukturieren. Mein Handeln in sozialen Netzwerken werde ich nach der Lektüre gedanklich kritischer und schärfer reflektieren. Auch wenn ich alle Kapitel inhaltlich gleich bedeutend einschätze, werden ohne ein Verständnis für die Tragweite von Falschinformationen die darauffolgenden und notwendigen Fragen erst gar nicht gestellt. Deshalb werde ich mich zukünftig mehr darum bemühen, die Problembeschreibung aus dem ersten Kapitel zumindest in meinem Umfeld allgemein zugänglicher zu machen.