Das enorme Tempo und die scheinbare Grenzenlosigkeit der Automatisierung oder politische Umbrüche, wie der Brexit und die Wahl von Donald Trump, werfen dringende Fragen auf. Was bedeutet das für uns als Individuum und unsere Gesellschaft, wenn Roboter bzw. Programme immer mehr Arbeitsfelder der Menschen übernehmen? Wie kann man zunehmendem Nationalismus begegnen und demokratische Strukturen oder Gemeinschaften wie die EU stärken und schützen? In diesem Beitrag sollen die daraus resultierenden Herausforderungen für den Bildungsbereich betrachtet und zur Diskussion gestellt werden.
Ein Blick auf den Arbeitsmarkt zeigt, dass nicht nur manuelle Tätigkeiten zunehmend automatisiert werden, sondern auch die, die auf reinem Abfragewissen basieren. Reproduktion von Fachwissen verliert rasant an Wert, weil es besonders gut digitalisiert werden kann. Früher genügte das in der Schule erworbene Allgemeinwissen für die Teilhabe am Großteil des gesellschaftlichen Lebens aus. Mit der Digitalisierung drängen Technik und neues Wissen in alle Lebensbereiche und erfordern ein Lernen als lebensbegleitenden Prozess. Das friedliche Zusammenleben in einer demokratischen, offenen, freien und pluralistischen Gesellschaft muss unter möglichst großer Beteiligung immer wieder neu ausgefochten werden. Die zu lösenden Probleme werden dabei immer komplexer. Deshalb stellt sich nun die Frage, welche Kompetenzen notwendig sind, um junge Menschen darauf ausreichend vorzubereiten. Hier werden in den USA schon länger und in Deutschland immer mehr von den 21st Century Skills gesprochen. Dabei stellen Communication, Collaboration, Creativity und Critical thinking die vier wichtigsten Cs dar. Die These hierzu lautet: Wer unter gleichzeitiger Anwendung von zeitgemäßer Kommunikation und Kollaboration, Kreativität und kritischem Denken lernt, erwirbt das notwendige Rüstzeug für die Zukunft. Das ins Deutsche übersetzte 4K-Modell des Lernens hat Andreas Schleicher auf der re:publica 2013 hierzulande bekannter gemacht. Seitdem wächst die Zahl der bunten Sharepics und Tweets zu den 4Ks auch in der deutschsprachigen Bildungscommunity. Weil fast alle Nennungen die 140-Zeichen bei Twitter nicht überschreiten und ein Ende als Buzzwords droht, möchte ich ein paar Gedanken zu den vier Ks in Theorie und Praxis in die Waagschale werfen, um eine tiefere und konkretere Debatte zu eröffnen.

Kommunikation

Wenn ich in einem Gespräch mit Lehrenden die 4Ks erwähne, höre ich am häufigsten, dass das alles nichts Neues sei. Schließlich habe man schon immer darauf geachtet, dass Lernende viel kommunizieren, zusammenarbeiten, kritisch hinterfragen oder kreativ sind. Dabei begehen sie meist einen entscheidenden Denkfehler, indem sie diese Kompetenzen nicht im Kontext des digitalen Wandels betrachten. 4K_ModellKommunikation scheint mir in diesem Zusammenhang das meist unterschätze K zu sein. Das liegt wahrscheinlich daran, dass wir tagtäglich kommunizieren und uns durch fehlende oder zumindest nicht wahrgenommene Rückmeldungen von Defiziten automatisch eine ausreichende Qualifikation zusprechen. Man übersieht, dass sich Kommunikation in den letzten Jahren gravierend verändert hat und damit auch die Anforderungen. Wenn man bedenkt, welchen Umbruch allein die Einführung der SMS erreichte, kann man die Wirkung von sozialen Netzwerken und den zusätzlichen Hyperlinks, Emojis, Hashtags, Sharepics, GIFs, Sprachnachrichten oder Stories, die aktuell Einzug halten, erahnen. Auch ohne diese neuen Kommunikationsmöglichkeiten sind Veränderungen feststellbar. Das im Netz häufig geteilte Video zum SAMR Modell von Puentedura, bei dem das digitale Schreiben als Substitution des analogen dargestellt wird, lässt einen wichtigen Aspekt aus, weil es das Schreiben isoliert, als Mittel zum Zweck, betrachtet. Axel Krommer berichtete mir bei einem Besuch in Freiburg, dass seine Student*innen im Laufe ihres Studiums alles digital schreiben würden und bei der Abschlussarbeit, die immer noch handschriftlich abgeben werden müsse, größte Probleme hätten, weil das Löschen, Kopieren und Einsetzen wegfiele. Digitales Schreiben ist eben nicht nur digitalisiertes analoges Schreiben. Es verändert die Art zu denken bzw. Texte gedanklich zu konstruieren. Deshalb stellen auch Postings und Tweets neue Denkverläufe dar. Hinzu kommt, dass jedes soziale Netzwerk einer eigenen Dynamik und z.T. unausgesprochenen Regeln unterliegt, die nicht alle gleich zu nutzen und lesen verstehen. Das kann von äußeren Faktoren abhängen, wie einer 140-Zeichenbegrenzung bei Twitter und dem Einfluss von Algorithmen bei Facebook, oder der eigenen Fähigkeit, ein Netzwerk aufzubauen, das (mehr) gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht.
Webstrukturen lösen bestehende Hierarchien auf, überwinden Grenzen und schaffen ein neues Kommunikationsgefüge. Der ehemals meist auf den Freundes- und Bekanntenkreis beschränkte Kommunikationsradius hat sich dadurch in den letzten Jahren in einem schleichenden Prozess nicht nur vervielfacht, sondern wurde um Mitmenschen erweitert, mit denen man vorher nicht in Kontakt stand. Die Diskrepanz der Wissensstände, Kommunikationsstrategien und -fähigkeiten fordert und überfordert dabei nicht selten. (Wer mehr darüber erfahren möchte, weshalb Social Media in die (Hoch-)Schulen gehört und wie man das anhand konkreter Beispiele umsetzen kann, wird hier fündig.) Der überschaubaren Anzahl an Briefen und Postkarten von früher stehen Massen an Benachrichtigungen diverser Messenger-Dienste, E-Mail-Konten und Social Media-Accounts gegenüber. Nicht selten werden dabei mehrere Kanäle parallel bedient. Müsste man in Anbetracht dieser Entwicklung den notwendigen Faktoren erfolgreicher Kommunikation in Schulen und Hochschulen nicht mehr Beachtung schenken? Wie viel psychologisches Wissen sollte eigentlich in schulisches Lernen einfließen, während Framing, alternative Fakten und Filterblasen die Öffentlichkeit verzweifeln lassen? Es gibt aber auch systemische Probleme des Unterrichts, die nun durch technische Mittel gelöst werden können. Wie häufig kommen z.B. Lernende in der Schule oder im Studium zu Wort? Man benötigt keine Statistik, um festzustellen, dass es (noch) erschreckend wenig ist. Weshalb also nicht die die Möglichkeiten ausschöpfen, die der digitale Wandel mit sich bringt, um Lernende zu aktiven Gastalter*innen ihres Lernprozesses werden zu lassen? Im Themenfeld Kommunikation sehe ich gegenwärtig am meisten Handlungsbedarf.

Kollaboration

Im Bereich der Kollaboration, die man in der Regel als intensivere Zusammenarbeit versteht, hat der digitale Wandel neue Möglichkeiten hervorgebracht, die im gesellschaftlichen Zusammenleben an Bedeutung zulegen. Hier genügt ein Blick in Firmen bzw. auf deren Arbeitsstrukturen oder über das Web formierte und gelenkte politische Bewegungen. In beiden Fällen sind Akteure, die zu Kollaboration bereit und vernetzt sind entscheidende Erfolgsfaktoren. Wie sieht aber die Konkurrenz zum Plakat oder der OH-Folie, die bisher den Höhepunkt der schulischen Kollaboration darstellten, aus? Anhand von wenigen Beispielen, möchte ich ein paar gewonnen Optionen auflisten:

  • Etherpads 

Ethepads sind webbasierte Editoren (wie z.B. das ZUMPad), durch die Dokumente von allen Beteiligten zeit-/ortsunabhängig und gleichzeitig bearbeiten werden können. Räumliche Vorgaben, wie fest installierte Tische oder Bänke, verlieren an Relevanz. Alle können zu Wort kommen.

  • Padletpadlet

Padlet bietet digitale Pinnwände, die alle bei den Etherpads bereits genannten Optionen erfüllen und zusätzlich das Ablegen von Audio-, Video-, Bild- oder Text-Dateien ermöglichen.

  • aula

Partizipation kann nicht über einen Lückentext gelernt, sondern muss erfahren bzw. gelebt werden. Die digitalen Strukturen der aula-Plattform erweitern Mitgestaltungswege und erleichtern Zugänge. Mehr dazu hier.

  • Blog

Ein Blog leistet fast alles, der bisher erwähnten Dinge, mit einem wichtigen Zusatz: Es kann langfristig das Zuhause eines persönlichen Lernnetzwerks sein, das Lernen mit allen vier Ks durch Vernetzung über schulische und Ländergrenzen hinaus ermöglichen kann. Hier sehe ich übrigens auch den klaren Vorteil gegenüber allen geschlossenen (digitalen) Schulsystemen. Lernende verfügen über ihr Geleistetes auch über die Schulzeit und das Studium hinaus und können es weiter nutzen und entwicklen.

Kreativität

Unabhängig der neuen Möglichkeiten, Kreativität (auch mithilfe der anderen Ks) umzusetzen, steht an dieser Stelle Innovation als wichtige Verknüpfung. Immer komplexere Probleme verlangen kreative Lösungen. Dass z.B. Plastik die Weltmeere verschmutzt und gravierende Folgen für Mensch und Umwelt verursacht, scheint so langsam in der breiten Öffentlichkeit angekommen zu sein. Am Beispiel von Boyan Slat wird deutlich, dass aufgrund der vielschichtigen Aufgabenstellung Kreativität allein nicht ausreicht und multiperspektivische Betrachtungen (Kommunikation, kritisches Denken und Kollaboration) notwendig sind. Wenn Wissen in neue Zusammenhänge übertragen wird, führt das zu Innovation. Dafür müssen Räume für experimentelles Handeln geschaffen werden. Die Gute Nachricht: Projektarbeit kann das auch im bestehenden Bildungssystem leisten.

Kritisches Denken

Kritisches Denken ist wahrscheinlich das anspruchsvollste K, das bei den eingangs erwähnten Fragen unserer Gesellschaft eine wesentliche Rolle spielt, wenn es darum geht, Entscheidungen in einer global vernetzen Welt zu treffen. Wie soll der Schutzmechanismus selbstfahrender Fahrzeuge programmiert werden, wenn eine unvermeidliche Kollision mit anderen Menschen droht? Welche Freiheiten oder Kontrollen sind im Netz wichtig, möglich oder wollen wir? Eine nie endende Liste an Fragen. Wo und wann ich aktuelle Fragestellungen im Unterricht aufgreifen kann, müssen Lehrende selbst entscheiden. Weil Lisa Rosa meiner Meinung nach hier bereits die wichtigsten Informationen und Gedanken zu kritischem Denken zusammengefasst hat, verzichte ich darauf, das Rad neu zu erfinden. Eine Einführung, Förderansätze und didaktische Hinweise finden sich außerdem noch hier (Lesemuffel schauen sich bitte wenigstens Seite 15 und 16 an) und für Hochschullehrende könnte dieser Beitrag interessant sein.

Zwei konkrete Beispiele aus der Praxis

Weil so häufig über zukünftige Herausforderungen gesprochen und geschrieben wird, möchte ich die Notwendigkeit der vier Ks vielleicht noch an einem letzten Beispiel verdeutlichen, bevor ich zur Unterrichtspraxis wechsle. Aktuell gehen europaweit jeden Sonntag Menschen auf die Straßen, um für die europäische Idee zu demonstrieren. Befindet sich die EU denn nicht auch deshalb in der Krise, weil es im Bereich der (interkulturellen) Kommunikation und der (Bereitschaft zur) Kollaboration Defizite gibt? Entstehen etwa nicht durch den Verbund der aktuell 28 Mitgliedsstaaten komplexe Probleme, die auch nach kreativen Lösungen verlangen? Müssen nicht einheitlich formulierte Ziele für über eine halbe Milliarde Europäer*innen kritisch durchdacht sein, um möglichst allen maximal gerecht zu werden. Könnten die vier Ks, wenn sie von der Mehrheit der Menschen beherrscht werden würden, nicht dazu beitragen, dass die EU auch als eine Kulturgemeinschaft besser gelingt?

Präsentationen

GFS (gleichwertige Feststellung von Schülerleistungen), FIP (fachinterne Überprüfung) oder FÜK (fächerübergreifende Kompetenzprüfung) sind nur drei Gründe, weshalb in allen Fächern jährlich unzählige Präsentationen (in Baden-Württemberg) gehalten werden. Ich weiß, dass einige Schulen bzw. Fachkonferenzen oder Lehrer*innen dafür Themenlisten vorgeben. Dabei erhält man hier eigentlich genau die notwendigen Freiheiten, die man für Lernprozesse, wie sie oben beschrieben wurden, nutzen könnte. Um die Herausforderung der FÜK-Themenfindung gemeinsam zu bewältigen, legte ich Ende letzten Jahres meiner Klasse ein Etherpad an, in das sie alle Themen, die sie wirklich interessieren und für die FÜK gerne bearbeiten würden, eintragen konnten. (Didaktischer Hinweis: Man muss dazu sagen, dass Schüler*innen, die es nicht gewohnt sind, frei zu entscheiden bzw. zu arbeiten oder mitzubestimmen, mit einer plötzlich angebotenen Freiheit völlig überfordert sind. Deshalb wundert sich manches Kollegium, dass Chancen diesbezüglich ungenutzt bleiben. Mein persönlicher Erfahrungswert: In Klassen, die ich als Klassenlehrer übernahm und in Mathematik, Geschichte, Chemie und manchmal noch anderen Fächern unterrichtete, investierte ich in der Regel 1,5 Jahre Kraft und Gespräche bzw. Reflexionen, um das Nutzen von Freiheiten so zu erreichen, wie ich mir das für mündige junge Menschen vorstelle.) Nach anfänglichen Startschwierigkeiten füllte sich das Etherpad relativ schnell mit Ideen. Das Ergebnis nach ca. zehn Minuten war eine Liste mit über 70 Themen, die wir im Anschluss inhaltlich und bezüglich Prüfungstauglichkeit (Gibt es ausreichend brauchbare Quellen? Kann man es mindestens zwei Fächern zuordnen?) im Plenum diskutierten. Durch die Option, ihre Gedanken frei (und anonym) ins Etherpad zu schreiben, erhielt jedes Klassenmitglied die Möglichkeit, seine wahren Ideen und Wünsche zu äußern, wurde durch die Gedanken anderer Mitschüler*innen zu neuen eigenen inspiriert oder entwickelte bestehende weiter. Beginnend mit einer Mehrzahl an geschichtlichen Themen, die wahrscheinlich noch durch den schulischen Denkrahmen geleitet wurden, lösten sich irgendwann der Knoten und führte die Liste in gesellschaftliche und psychologische Themenbereiche, wie Darknet, Mainstream oder Klarträume. Die Erarbeitung einer Struktur im Anschluss erfolgte ebenfalls mit einer der bereits genannte Tools, die sich für raum- und zeitunabhängige Kommunikation und Kollaboration eignen. Mir persönlich nahm diese Arbeitsweise den Druck, in den Pausen zwischen Tür und Angel beraten oder viele Nachmittagstermine anbieten zu müssen, um ausreichend Zeit für kritisches Denken bei der inhaltlichen Debatte zur Verfügung zu haben. Kreativität spielte meist eine Rolle, wenn es darum ging, welche Produkte oder Umsetzungen am Ende stehen könnten. (Wie soll Expert*innenwissen in die Arbeit einfließen? Über ein Interview? Schriftlich, Ton- oder Videoaufnahme? Wie kann ich das mit der mir zur Verfügung stehenden Technik am besten lösen?)

aula

Unter dem Aspekt digitaler Kollaborationsmöglichkeiten nannte ich aula bereits. Alle Schüler*innen unserer Schule können über diese Plattform ihre Ideen posten, gemeinsam weiterentwickeln und abstimmen. Die erste Idee, die das nötige Quorum erreicht hatte, um auf den Tisch zu kommen und nach Prüfung der Schulleitung zur finalen Abstimmung freigegeben wurde, scheiterte aber an der fehlenden einfachen Mehrheit. Was danach folgte, beschreibt das Lernen mit den vier Ks: Im Schülerrat und Klassen wurde diskutiert, wie es zur geringen Wahlbeteiligung kommen konnte. Ablauf, Strukturen, Wählerschaft und sonstige Faktoren wurden analysiert und kritisch hinterfragt, um Lösungsansätze zu entwickeln, die einen erneuten Misserfolg verhindern sollten. Mangelnde Informationen, Motivation und Werbung wurden als einige der Ursachen ausgemacht. Bestehende bzw. funktionierende Kommunikationskanäle wie Snapchat wurden und werden nun ergänzend genutzt, Plakate (klassenübergreifend) erarbeitet und aufgehängt und Durchsagen gemacht. Eine Schülergruppe erstellte zusätzlich einen Plan, wann sie welche Klassen informieren und durch persönliche Ansprachen motivieren kann, um ausreichend Zuspruch zu generieren. Ich bin sehr gespannt, ob es die nächste Idee, die eventuell nach den Osterferien zur Abstimmung freigegeben wird, schaffen wird. Unabhängig davon haben unsere Schüler*innen bereits viel über demokratische Prozesse gelernt.

Ergänzung

Bei allen hier und in anderen Blogbeiträgen genannten Beispielen mit digitalen Tools verfolge ich stets das Ziel, dass Schüler*innen lernen, diese Anwendungen für ihren Lernprozess selbst zu nutzen. Das ist kein Selbstläufer, sondern muss mit den Klassen gezielt erarbeitet und geübt werden. Deshalb freue ich mich umso mehr über jedes Padlet, Blog, Etherpad, Erklärvideo oder sonstige Anwendungen und Produkte, die nicht von Lehrenden, sondern von Lernenden frei gewählt erstellt werden.

Der digitale Wandel ist unumkehrbar und stellt uns vor komplexe Herausforderungen, die mit dem bisherigen Verständnis von Lehren und Lernen nicht lösbar scheinen. Ein Ziel muss es sein, die zukünftigen Generationen zu befähigen, unbekannte Hürden in einem sich ständig wandelndem Feld zu meistern. Menschen mit einem guten persönlichen Lernnetzwerk, die beim Lernen zeitgemäße Kommunikation und Kollaboration, Kreativität und kritisches Denken anwenden, traue ich das (aktuell) zu.

 

Seit der Einführung der GFS (Gleichwertige Feststellung von Schülerleistungen) zum Schuljahr 2004/2005 (in Baden-Württemberg) und dem damit verbundenen Anstieg an Referaten suche ich immer wieder nach Alternativen zur klassischen Präsentation. Außerdem finde ich, dass die Auswahl an Möglichkeiten, wie Schüler*innen ihre Qualitäten unter Beweis stellen können, ständig erweitert und aktualisiert gehört. Deshalb bot ich im letzten Schuljahr ein paar Klassen an, ihre Noten durch eine Snapchat-Story zu verbessern. Die Idee dazu entstand als ich Patrick Breitenbachs Snaps zum Pygmalion-Effekt entdeckte. Falls jemand nicht wissen sollte, was Snapchat ist bzw. wie es funktioniert, empfehle ich das und die dazugehörigen Folgebeiträge zum Thema zu lesen.

 

Weshalb Snapchat-Story?

  • Snapchat ist ein kostenloses digitales Tool, das ein Großteil der Schüler*innen auf dem Smartphone installiert hat, täglich nutzt und daher mit dem Handling sehr vertraut ist. Natürlich erhält der Einsatz dieser App im Unterricht dadurch auch einen motivierenden Charakter. Persönliche Anmerkung: Ich bin kein Freund von für Schule produzierten Tools und Plattformen, zu denen ich junge Menschen erst hinlotsen muss; weil es a.) erfahrungsgemäß viel Kraft und Zeit kostet und b.) in der Regel gute Gründe gibt, weshalb diese nicht funktionieren. Bei Snapchat & Co. schwingt dafür aber die Gefahr mit, dass man un-/bewusst oder verstärkt auf den Trend-Zug aufspringt und die Einbindung aktueller, digitaler und hipper Tools in den Unterricht erzwingt, um ein Bild nach außen zu projezieren, das dem eigenen oder Schulportfolio entgegenkommt. (Anselm Sellen hat es hier einen Hauch kritischer formuliert.) Je mehr das zutreffen sollte, desto flüchtiger schätze ich die zusätzlich gewonnene Motivation durch das “Neue”. Ich glaube, dass nur ein (didaktisch) “gut begründeter” Einsatz einen nachhaltigen Anreiz und Gewinn für alle schaffen kann. Dass Lehrende stets der Frage nachgehen, wie man Dinge, die Schüler*innen aktuell beschäftigen, beim Lernen einsetzen kann, ermöglicht innovative, kreative und motivierende Produkte. Trotzdem darf niemals die Kernfrage “Was kann ich wie am besten lehren bzw. lernen?” an Bedeutung überboten werden. Ein sachlicher und ehrlicher Austausch mit anderen Lehrenden über eigene Ideen und Vorhaben hilft zumindest mir dabei, dieses Ziel nie aus dem Blick zu verlieren.
  • Das Format gehört zur Storytelling-Methode (Wer bei Wikipedia Storytelling in der Schule nachliest, wird beim letzten Aspekt eine zarte Abweichung zur Aussage meines Beitrags entdecken.), die wiederum in verschiedenen Varianten umgesetzt werden kann. André Hermes stellte dieses Jahr dazu auf der Veranstaltung Mobiles Lernen mit Tablets und Co. in Oldenburg u.a. die Vorzüge von Pecha Kucha im Unterricht vor. Die Snapchat-Story sehe ich als eine weitere Entwicklung dessen. Was spricht aber für die Methode? Dass man Informationen didaktisch reduzieren muss und dabei die Möglichkeiten hat, diese relativ einfach und kreativ zu verpacken. Außerdem analysieren Schüler*innen bei der Aufnahme von Snaps automatisch ihre Sprache, Gestik und Mimik. Auch rhetorische Fertigkeiten oder Möglichkeiten der Bild- und Videogestaltung können an dieser Stelle vertiefend angeboten werden.
  • Die stillen und introvertierteren Schüler*innen erhalten durch die Snapchat-Story eine Möglichkeit, sich zu einer Präsentation vor Publikum, wenn das überhaupt gewünscht oder nötig sein sollte, heranzutasten. Dabei ist der Zwischenschritt, dass sich erst einmal nur Lehrende die Snaps ansehen.

Bildschirmfoto 2016-09-02 um 02.33.15Schulpraxis konkret

Es bietet sich an, die Methode in einer Doppelstunde einzuführen. Dabei muss geklärt werden, was eine Snapchat-Story ist und Beispiele angesehen und untersucht werden. Das kann je nach Klasse unterschiedlich ausführlich und vertieft stattfinden. Am Ende sollten aber folgende Fragen und Regeln geklärt sein:

  1. Welche Themen kommen für Snapchat-Storys infrage? Autobiografien oder geschichtliche Entwicklungen, die bereits eine chronologische Struktur besitzen, eignen sich für einen einfachen Einstieg oder jüngere Schüler*innen. Komplexe Sachverhalte müssen erst inhaltlich überblickt, in Unterpunkte unterteilt und sortiert, auf das Wesentliche reduziert und in eine Erzählstruktur gegossen werden. Das wäre die anspruchsvollere Variante, die eher bei älteren bzw. stärkeren Schüler*innen Sinn macht.
  2. Wie unterteilt man eine Geschichte in adäquate Abschnitte, die man in 10 Sekunden-Snaps verpacken kann? Die Erarbeitung einer Gliederung ist methodisch nichts Neues. Hier kann man also auch auf die bisher erfolgreich angewandten Methoden zurückgreifen.  Mit Beginn der ersten Snapaufnahmen entwickelt und verfeinert sich relativ schnell das nötige Zeitgefühl für das 10 Sekunden-Limit. Im Vergleich zur Pecha Kucha-Methode, bei der gnadenlos alle 20 Sekunden das nächste Bild erscheint und die Präsentation fortschreitet, kann man hier eine misslungenen Versuch löschen und einfach eine neue Aufzeichnung starten. 
  3. Ein Storyboard erstellen. Sobald eine Gliederung steht, muss die Umsetzung der einzelnen Unterpunkte separat geplant und schriftlich festgehalten werden: Welcher Text geschrieben und gesprochen wird und welche Ton- und Bild-Elemente wie (und wann) eingesetzt werden. Tipp: Jedes Konzept für einen Snap zuerst testen, bevor man das nächste plant.    
  4. Jeder Snap muss alleine stehen können bzw. als eine eigene, abgeschlossene Geschichte funktionieren. Diese Regel habe ich von Patrick Breitenbachs Blogbeitrag übernommen. Mir geht es darum, dass die Botschaften klar und deutlich bleiben und Verschachtelungen vermieden werden.
  5. Welche audio-visuellen Möglichkeiten gibt es, um einen Snap noch anschaulicher, interessanter oder kreativer zu gestalten? Das Pygmalioneffekt-Video bietet ein breites Spektrum an Ideen, die man übernehmen, weiterentwickeln oder von denen man sich inspirieren lassen kann. Man könnte aber auch durch die (aktuell letzte) Snapchat-Linse eine andere Persönlichkeit sprechen lassen. Hier kann man sich dazu ein Beispiel ansehen.
  6. Worauf muss man bei den Aufnahmen sonst noch achten? Bild- und Tonqualität, Sprechtempo, Verständlichkeit und Sprache sollte vorher nochmal diskutiert werden.
  7. Das Thema Urheberrecht, bezüglich der Nutzung von fremdem Bild- und Tonmaterial bei Snaps, muss geklärt werden. Es bietet sich auch an, dieses Thema ausführlicher in einer Anschlussstunde zu erarbeiten, da es auch die alltägliche Nutzung der Schüler*innen betrifft.
  8. Es eignet sich die Methode Snapchat-Story in Zweier- oder Dreiergruppen einzuführen, weil nicht jede/r ein Smartphone oder die App besitzt. Natürlich besteht immer die Gefahr, dass Smartphones im Unterricht auch anderweitig genutzt werden. Freiheiten werden aber erfahrungsgemäß dann nicht missbraucht, wenn sie Basis des Arbeitens und nicht die Ausnahme sind. An dieser Stelle sollten Lehrende eine ordentliche Portion Geduld und viele Gespräche einplanen, um beobachtetes Fehlverhalten immer wieder in Einzelgesprächen und gemeinsam im Plenum zu reflektieren.
  9. Wie kommen Lehrende an die Snaps? Ich habe mir die einzelnen Snaps via AirDrop von den iPhones der Schüler*innen geben lassen. Android- oder Windows-Nutzer*innen schickten ihre Snaps via Messenger an jemanden aus der iPhone-Gruppe.
  10. Notengebung? Ich hatte über 20 Snaps als Maßstab für ein Referat angegeben, das wie eine halbe Klassenarbeit gewertet wird. Um den Aufwand einer GFS (Klassenarbeit) zu erreichen, habe ich über 40 Snaps als Ziel formuliert.

Hier habe ich drei Beispiel-Snaps einer 8.Klasse hochgeladen, die zeigen sollen, wie unterschiedlich die Umsetzungen ausfallen können.

Ich werde diese Methode auch im kommenden Schuljahr Klassen wieder anbieten. Falls dabei neue Perspektiven oder Aspekte auftauchen sollten, werde ich sie in diesem Blogbeitrag ergänzend hinzufügen. Wer an weiteren Ideen interessiert sein sollte, wie und wo man mit Snapchat Lehr- und Lernziele erreichen kann, findet jeweils hier einen Beitrag von Philippe Wampfler, hier von Monika Heusinger und hier von Peter Jochum.

PS: Mittlerweile kann man alle Snaps unter Memorys bei Snapchat abspeichern und hinterher als komplette Snapchat-Story veröffentlichen. So könnten Lehrende und Lernende nach einer Stunde eine Zusammenfassung oder eine Story als Einstieg für den kommenden Unterricht bequemer snappen.