Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, Demokratiebildung in der Schule anzugehen. Bestehende und gesetzlich verankerte Strukturen zu stärken ist eine wesentliche. In Baden-Württemberg gibt es hier die SMV (Schüler*innenmitverantwortung), deren rechtliche Grundlage in der Landesverfassung, im Schulgesetz, in der SMV-Verordnung und SMV-Satzung geregelt ist bzw. wird. Dieser Blogbeitrag soll allen am Schulleben Beteiligten dabei helfen, die SMV-Arbeit erfolgreich ausüben und Demokratiebildung fördern zu können. Besonders denen, die am Anfang stehen und Orientierung suchen. (Informationen, Materialien und Tipps werde hier immer wieder ergänzt und gesammelt.)

Die Gewerkschaft der 90%

Die Idee, Vorstellung der Personen von der SMV prägt ihre Rolle und Arbeit. Dabei wird in der Regel nur wiederholt, was man selbst erlebt oder schon woanders oft gesehen hat und kennt. Weshalb an vielen Schulen die SMV-Arbeit ähnelt und aus einem Nikolaus-Verkauf im Dezember, einer Rosen-Aktion im Februar, einer Party im Laufe des Jahres und dem Kuchenverkauf bei Schulveranstaltungen besteht. Dabei lohnt sich ein Blick in das Schulgesetz von Baden-Württemberg, wo unter § 62 Absatz 2 Folgendes steht:

„[…] Die Schüler haben […] die Möglichkeit, ihre Interessen zu vertreten und durch selbstgewählte oder übertragene Aufgaben eigene Verantwortung zu übernehmen.“

Wenn man die Aussagen in diesem Ausschnitt betrachtet und die Tatsache berücksichtigt, dass in den meisten Schulen bzw. Schularten Schüler*innen ca. 90% der Personen im Gebäude stellen, bietet sich ein bekanntes Bild aus der Arbeitswelt an: die SMV als Schüler*innengewerkschaft zu verstehen. Diese Vorstellung kann Schüler*innen, Lehrkräften, Schulleitungen und Eltern als Kompass dienen, bezüglich der Rolle und Arbeit der SMV und sie als Interessenvertretung begreifen, die sich ihre Aufgaben selbst stellt und um bessere (Lern-)Bedingungen für die 90% ihrer Schule bemüht. Um das zu können, muss man wissen, wie die SMV strukturiert ist und sich organisiert.


Hierfür kann diese PDF heruntergeladen werden, die den Aufbau der SMV schrittweise abbildet und erläutert. Da die Vertretungen der Schüler*innen jährlich neu gewählt werden und sich die Zusammensetzung ständig wandelt, empfiehlt es sich, dazu immer einen Info-Block zu Beginn des Schuljahres durchzuführen, um altes Wissen aufzufrischen oder Neues zu erwerben. Es bietet sich auch an, alle notwendigen und möglichen Gremien ausführlich zu besprechen, die die SMV-Arbeit umfassen, wie zum Beispiel die Schulkonferenz. Hier kann dazu das folgende Bild als PDF heruntergeladen werden:

Wahlen

Wer sich die PDF zum SMV-Aufbau ansieht, stellt fest, dass bis zur dritten Woche die Klassensprecher*innen und bis zur siebten die Schülersprecher*innen gewählt sein müssen. Vor ein paar Jahren habe ich hier einige wesentliche Gedanken und Aspekte aufgeschrieben, welche Funktion und Wirkung die Wahl der Klassensprecher*innen hat und welches Vorgehen sinnvoll sein kann. (Nicht irritieren lassen: Da ich vor längerer Zeit, nach der Übernahme von Musk, meinen Twitter-Account gelöscht habe, wird der einst eingebettete Tweet im verlinkten Blogbeitrag nicht mehr angezeigt. Das wir aus Transparenzgründen nicht korrigiert.) 

Folgende zwei (überarbeitete) Sharepics bzw. Fragen bieten vor den Wahlen eine solide Grundlage für bereichernde Diskussionen mit den Schüler*innen: 

Diese PDF bzw. Checkliste für die Durchführung einer Schülersprecher*innenwahl kann zusätzlich bei der Planung unterstützen, entlasten:

SMV mit Plan

Damit sich junge Menschen möglichst wirksam erleben, ist eine frühzeitige Planung des Schuljahres von Vorteil. Diese PDF-Vorlage und Checkliste kann dabei ein erster Schritt sein.

Es hat sich besonders bewährt, wenn sich das SMV-Team zeitnah nach der Schüler*sprecher*innenwahl für ein bis drei Tage Raum und Zeit nimmt (z.B. gemeinsam auf eine SMV-Hütte fährt), um herauszufinden, welche Probleme es wie lösen, Ideen umsetzen oder Themen angehen möchten. Eine zentrale Erfahrung dabei ist: Je konkreter und verbindlicher die Projekte geplant werden, umso wahrscheinlicher werden sie (erfolgreich) umgesetzt. Diese PDF-Vorlage zeigt einen denkbaren Rahmen auf, der sich auch digital (z.B. mit TaskCards) umsetzen lässt, was die asynchrone Arbeit ermöglicht. 

Ich wünsche allen Schüler*innengewerkschaften viel Erfolg!

Am 06.02.2025 durfte ich beim Abendprogramm der Gesichter gegen Rechts-Ausstellung  einen kurzen Redebeitrag beisteuern. Weil Personen ihn nachlesen wollten, wird er hier veröffentlicht.

Bildung im Kampf gegen den Faschismus und für eine starke Demokratie

Zuerst möchte ich erklären, was mit Bildung, Faschismus und starker Demokratie gemeint ist, weil sich Menschen hier aus Erfahrung unterschiedliche Dinge vorstellen und eine gemeinsame Idee und Grundlage uns hilft, uns besser zu verstehen. Und weil ich Lehrer bin und es gelernt habe, auf Fragen zu antworten, werde ich auch heute Fragen beantworten. Und zwar die, die Lehrer am liebsten mögen: die eigenen.

Was ist mit Bildung gemeint?

Bei „Bildung“ denken die meisten Menschen an Schule, Unterricht und lernen. Wenn es aber darum geht, als Gesellschaft gegenüber autokratischen Kräften und Faschismus wehrhaft sein zu können, kann und muss Bildung als lebenslanges Lernen verstanden werden. D.h., es betrifft uns alle, unabhängig vom Alter, Beruf oder anderen Kriterien und Rollen, die wir in einer Gesellschaft erfüllen. Und weil auch der Faschismus dazugelernt und sich weiterentwickelt hat, müssen auch wir immer wieder Neues lernen. Auch bei der Frage, was eine starke Demokratie in der heutigen Zeit auszeichnet und benötigt.

Was ist mit Faschismus gemeint? 

Bei „Faschismus“ denken viele in der Regel an Hitler und die NS-Zeit, an SA-, SS-Uniformen und alle anderen Bilder, die sich über die Schulzeit, Dokumentationen oder Filme in den Köpfen eingebrannt haben. Faschismus ist etwas Altes, das es zwischen 1919 und 1945 gab. Diese Ideologie, Vorstellung der Welt, die von Nationalismus und Rassismus geprägt ist, war aber nie weg. Sie war nur leiser, verdeckter und wurde ignoriert oder sollte sogar ignoriert werden. Als sei Faschismus ein Problem, das man nur an die Vergangenheit kleben müsse, um damit sei alles erledigt. 

Und so erleben wir heute auf unterschiedlichen Kontinenten und in verschiedenen Ländern Autokratien, die eine faschistische Idee wiederbeleben, ihr folgen und die Gewaltenteilung stark eingeschränkt oder sogar abgeschafft haben. Demokratien sind weltweit in Gefahr. Ob in den USA, Österreich oder Deutschland. Die Meinung, es bräuchte eine starke Führung, die in einer komplexen Welt mit komplexen Problemen einfache (vermeintliche) Antworten liefert, hat eben eine lange Geschichte. Eine, die an zu vielen Stellen nie ehrlich und vertieft aufgearbeitet wurde und sich deshalb zu wiederholen droht.

Was bedeutet starke Demokratie?

„Man erkennt den Wert einer Gesellschaft daran, wie sie mit den Schwächsten ihrer Glieder verfährt“ hat mal Gustav Heinemann gesagt, der dritte Bundespräsident der BRD. In einer starke Demokratie würde man somit nicht erkennen können, wer die schwächsten Glieder der Gesellschaft wären. Denn sie wäre sozial gerecht und die Würde jedes Menschen wäre tatsächlich unantastbar. Eine starke Demokratie baut nicht auf Konkurrenz und Ausgrenzung, sondern ist daran interessiert, dass wir es alle schaffen. Sie wird von vielen und vielfältig definiert und nicht von wenigen und einfältig. Eine starke Demokratie ist, was auch ihr sagt (und nicht nur der Lehrer).

Was begünstigt oder hilft dem Faschismus?

Stellt euch vor, man würde euch weder fragen noch dürftet ihr mitbestimmen, wann, was und wie viel ihr essen oder trinken sollt, ob und wann ihr aufs Klo gehen dürft, wie eure Stadt gebaut werden soll, wer regiert, ob und von wem ihr angefasst und geküsst werden dürft oder wo ihr wohnen sollt. Das beschreibt die Lebensrealität junger Menschen, in der Schule und Zuhause und nennt sich Adultismus. Junge Menschen werden als „unfertige Erwachsene“ gesehen und behandelt. 

Sie erfahren keine Gleichwertigkeit und lernen von klein auf, dass ein starkes Machtungleichgewicht und Machtmissbrauch „normal“ sind, weil sie es täglich mehrfach erleben. Junge Menschen werden zum Funktionieren erzogen. Keine Zeit für Fragen, ihre Frage, ihre Wünsche, ihre Ideen einer starken Demokratie. Wer gut funktioniert, wird belohnt und alles andere wird als Störung definiert, ob Handlung oder Mensch. Was in der Schule gelernt wurde, dient auch als Logik in der Arbeitswelt. Funktionieren. Keine Zeit, für eigene Fragen, eigene Wünsche und Ideen einer starken Demokratie. 

Und dann gibt es noch das populäre Missverständnis der „Neutralität“, die ironischerweise im Medienbetrieb auch vermehrt als Begründung verwendet wird, um Menschenfeindlichkeit mehr Raum und Sendezeit zu geben, weil Klicks zählen und diktieren. Gar nicht so neutral, lässt der Höchststand der Straftaten aus rassistischen Gründen vermuten. Aber auch Schulen, Verwaltungen, Unternehmen usw. strapazieren gerne den Hinweis, immer „neutral“ sein müssen. Dabei wird oft der Denkfehler begangen oder bewusst gestärkt und verbreitet, Politik mit Parteien gleichzusetzen. Auch das, stärkt autokratische Kräfte: Die weit verbreitete und tief verankerte Vorstellung, Politik und Demokratie sei nur etwas, das andere für einen erledigen und man selbst sei lediglich Zuschauer*in.

Politik und vor allem Demokratie sind aber weitaus mehr als Parteien und Wahlen. Und natürlich ist ALLES politisch. In welche Schule und Schulart unsere Kinder gehen oder nicht, was wir sagen und kaufen oder nicht, essen und trinken oder nicht, wo und wie wir wohnen und arbeiten oder nicht, auch wen wir lieben oder nicht. Sogar, wer hier ist, ob und wer darüber berichtet, was hier diese Woche stattfindet oder nicht. (Zwinkersmiley in Richtung Dita Whip.)

(Es ist auch politisch, dass ich erst heute um 14 Uhr zum ersten Mal Zeit hatte, mich hinzusetzen, um diesen Vortrag zu schreiben. Und, dass ich ihn selbst geschrieben und nicht ChatGPT gebeten habe; weshalb mir auch die Zeit fehlte, mich zu rasieren.)

Eigene Regieanweisung: Pause für Applaus, Würdigung und das Verzeihen meines unrasierten Kopfes. Dankbar verneigen.

Wir denken, handeln, sind stets politisch. Wir entscheiden mit, in welcher Gesellschaft wir leben und leben wollen. Und um alle Missverständnisse auszuschließen: Es gibt keine Neutralität gegenüber Faschismus oder Menschenfeindlichkeit. Hier gilt die einfache und für alle verständliche Regel: Wer schweigt, stimmt zu. 

Was begünstigt oder hilft einer starken Demokratie?

Spätestens seit der CORRECTIV-Recherche und den darauf folgenden historischen Demonstrationen, die über viele Monate Millionen von Demokrat*innen bundesweit auf die Straßen gebracht hatte, war die Erkenntnis der Notwendigkeit und eine Bereitschaft, gegen die Deportationspläne und den drohenden Faschismus kämpfen zu wollen, deutlich sichtbar. Auch nach den aktuell und zunehmend offenen, rassistischen Aussagen eines Kanzlerkandidaten und dem Schulterschluss mit Faschist*innen im Bundestag, hat sich nicht nur in Freiburg wieder gezeigt, dass die Demokratie bundesweit verteidigt wird.

Eine starke Demokratie kann aber nicht allein aus dem Widerstand gegenüber dem Faschismus entstehen. Es braucht ein gemeinsames, neues und verbindendes gesellschaftliches Bild, wie alle in Würde zusammen leben können. Manchmal hilft es, das Gegenteil als Ausgangspunkt zu wählen, um zu erkennen, wohin man steuern möchte und muss. Und wenn Hass Faschist*innen eint, sollte klar sein, wohin eine starke Demokratie lenken sollte. Vor wenigen Tagen hatte ich von der Süddeutschen Zeitung eine Kachel bei Instagram in meiner Timeline, bei der die Auschwitz-Überlebende Eva Szepesi gefragt wurde, ob sie nicht manchmal Hass verspüre. Ihr Antwort lautete: „Nein. Hassen kann ich nicht, weil ich so viel Liebe von meinen Eltern bekommen habe.“ Liebe ist eine starke, wirksame Antwort auf den Faschismus. 

Liebe erfordert in der Absicht und Handlung Fürsorge, Zuneigung, Anerkennung, Respekt, Hingabe, Vertrauen und eine ehrliche und offene Kommunikation. Eine Gesellschaft, die sich daran orientiert, ist solidarisch, gerecht und frei. 

Es braucht aber auch eine andere Erzählung und Rolle von Menschen in einer Demokratie. Eine, in der sich Bürger*innen, unabhängig vom Alter, Einkommen oder sonstigen Merkmalen, an möglichst vielen Stellen als selbstwirksam erleben können. Eine, die Vielfalt als Lösung versteht und nicht als Problem definiert, weil Vielfalt durch ihre verschiedenen Blickwinkel und ihr unterschiedliches Wissen erst ermöglicht, komplexe Probleme zu lösen, vor denen wir stehen und die nicht verschwinden werden, auch wenn wir die Augen verschließen oder auf vermeintliche Schuldige zeigen.

Eine starke Demokratie braucht Raum, in dem sie gemeinsam gedacht und ausgehandelt werden kann. Dieser Raum ist ein solcher. Danke dafür, dass er geschaffen wurde und ich einen kleinen Teil dazu beitragen durfte. Eine starke Demokratie bedeutet auch, es nicht bei diesem Raum zu belassen und dass alle, die hier sind oder nicht, ebenfalls einen Raum der Begegnung schaffen können und müssen, wenn wir es alle irgendwie schaffen wollen. Lasst euch dabei von Liebe leiten. Sie ist immer Teil einer, wenn nicht die Lösung.

I. Das Problem

Demokratie unter Druck lautete der Titel einer Tagung der Landeszentrale für politische Bildung, bei der letzten Dienstag und Mittwoch die Herausforderungen der politischen Bildung bzw. Demokratiebildung für Gesellschaft und Schule aus “diversen“ Perspektiven betrachtet und im Anschluss diskutiert werden sollten. Prof. Dr. Wolfgang Sander (von der Justus-Liebig-Universität Gießen) erläuterte dabei in seinem Vortrag ausführlich, welche Gefahren für eine Demokratie von einer aktivistischen “Wokeness-Bewegung“ ausgehen würden, die lächerliche Diversitätsforderungen stelle, Student:innen zum Gendern zwingen möchte, einen Identitätskampf führe, Sprachverbote verhänge und Cancel Culture betreibe. Die Ausführungen von Sander stießen bei einigen Anwesenden auf Resonanz, sie hielten flammende Reden, weshalb sie nicht mehr das Z- oder N-Wort sagen dürfen (wobei sie es ausgesprochen haben).

Direkt nach seinem Vortrag hielt ich eine Gegenrede. Manche Lehrkräfte schlossen sich meiner Kritik an. Später hielten meine Kollegin und ich unseren Impulsvortrag, den wir in der Zwischenzeit um ein paar Folien verändert hatten, um einige Aussagen von Herrn Sander besser einordnen zu können. Um besser zu verstehen, was vorgefallen war, tauschte ich mich in den letzten Tagen mit einigen Personen zum Geschehen aus. Ein Fazit dieser Gespräche war, dass der Verlauf der Tagung widerspiegelt, wie viele Debatten rund um Demokratie/-bildung geführt werden, unter welchen  Rahmenbedingungen das stattfindet und welche Hürden es zu überwinden gilt.

Weil ich denke, dass das häufiger, ehrlicher und öffentlicher diskutiert werden sollte, fasse ich hier einige wesentliche Gedanken und Fragen zusammen. Dieser Beitrag ist keine Replik auf den Vortrag von Wolfgang Sander. Es geht im Prinzip nicht einmal um ihn oder diese konkrete Tagung. Beides steht nur stellvertretend für Probleme und Konflikte, die vielerorts existieren und stattfinden. 

Demokratie unter Druck?

Wer diskutieren möchte, ob sich eine Demokratie in einer Krise befindet, muss nicht nur zuerst definieren, wann von einer Krise gesprochen wird, sondern auch klären, was unter Demokratie zu verstehen ist. Eine zentrale Frage dazu lautet: Wer bestimmt, wann eine Krise vorliegt und was demokratisch ist?? (Wie ein Ergebnis auf diese Frage aussehen kann, zeigt diese Visualisierung zur Wahl in Berlin.) Bei einer Tagung kann es aufschlussreich sein, sich die Redezeiten der Beiträger:innen anzusehen.

Meine Kollegin und ich erhielten am Nachmittag 20 Minuten für einen kurzen Impulsvortrag, um unsere Expertise und Perspektive aus der Praxis zur Demokratiebildung an Schulen vorzustellen. Auf einer Folie bildeten wir Namen, Foto und jeweilige Redezeiten der Referent(:inn)en ab. (Alles Infos, die wir dem Flyer zur Veranstaltung entnahmen.) Manchmal kann eine Kombination aus Bild und Text eine besondere Wirkung entfalten und zum Reflektieren anregen.

Was von uns in der Planung als freundlicher (und humorvoll verpackter) Hinweis (dass mehr Personen mit dem Vornamen Wolfgang als Frauen bei der Tagung vortragen) und Einladung an alle gedacht war, auch das eigene Denken und Handeln stets kritisch zu hinterfragen, sollte die Fortführung einer Auseinandersetzung werden, die zuvor durch den Vortrag von Sander ausgelöst wurde.

Wenn Wokeness und nicht Rassismus das Problem ist

Sander erhielt eine gute Stunde Zeit, um seine Gedanken auszubreiten, vor welchen Herausforderungen Gesellschaft und Schulen im Kontext der politischen Bildung stehen. Nach einer kurzen Einführung zum Druck auf die Demokratie durch Extremismus, widmete er die meiste Zeit seiner Ausführungen der aktivistischen ‚Wokeness‘-Bewegung. Es würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, alles aufzuführen und auf jeden Aspekt einzugehen. Zwei Punkte, die genau so auf einer seiner Präsentationsfolien standen, möchte ich aber exemplarisch aufführen: 

  • Kampf gegen ‚Diskriminierung‘ (fast) jeder Art: Rassismus (‚Kulturrassismus‘, antimuslimischer Rassismus‘), Dekolonisierung, ,kulturelle Aneignung; Sexismus, Transfeindlichkeit, Homophobie; Klassismus, Ableismus, Adultismus, Bodyismus, Lookismus, Linguizismus…
  • Behauptung, Diskriminierungen seien (intersektional) miteinander verknüpft und bildeten ein apersonales Gewebe von Machtstrukturen, das sich über Sprache (‚Diskurse‘) und daraus entstehende Normalitätsvorstellungen vermittle und absichere. Beispiel: Rassismus sei eine machtförmige Struktur, ein „weißes Dominanzsystem“, „sodass die Imagination von rassismusfreien Räumen nicht möglich ist.“ (Karim Fereidooni)

Allein anhand der einfachen oder auch halben Anführungszeichen (‚…‘), die genutzt werden, um eine wissenschaftlich unübliche Bezeichnung (u.a. Umgangssprache) darzustellen, kann man erahnen, was zu den Punkten gesagt wurde. Es wurde so dargestellt, als könne und würde man Diskriminierungen frei erfinden und so eine endlos lange, künstliche Liste erzeugen. Beim zweiten Punkt wird es noch deutlicher, weil alles Beschriebene direkt zu Beginn als Behauptung abgewertet wird. Aussagen von Karim Fereidooni (dessen Name übrigens auf der Präsentation von Sander falsch geschrieben wurde) wurden meiner Erinnerung nach nicht richtig oder in einem verzerrenden Kontext wiedergegeben. 

Sander machte sich darüber lustig, dass scheinbar alle rassistisch sozialisiert sein sollten, dass es keinen Rassismus gegen Weiße geben könne und deutete an, dass Karim Fereidooni nicht (so richtig) wissenschaftlich arbeiten würde. Fachliteratur zu Rassismus entwerte er als Szene-Literatur, als sei das etwas, das in irgendwelchen Clubs gehandelt wird. An Empirie würde es hier fehlen. Er verspottete Betroffene von Rassismus, indem er sagte, dass sie für sich beanspruchen würden, zu bestimmen, was rassistisch sei und man allein daran ableiten könne, wie unsachlich und lächerlich diese Debatte sei.

Woke vs. Wissenschaft

Es folgten unzählige Ausführungen und Anekdoten darüber, dass nur noch schwule Personen in Filmen Schwule spielen dürfen, dass an einer Hochschule Student:innen eine Benachteiligung bei der Notengebung erfahren, wenn sie nicht gendern, dass Wörter und Literatur verboten und Straßennamen geändert werden, dass Personen wegen der aktivistischen ‚Wokeness‘-Bewegung gecancelt werden und den Job verlieren und vieles mehr. Außerdem verhöhnte er die Forderung nach Diversität, da auch hier die Liste endlos und deshalb am Ende überhaupt nicht umsetzbar sei, Gremien, Panels oder sonstige Gruppierungen immer mit einer Frau, einer migrantischen oder einer  behinderten Person usw. zu besetzen.

Sander wollte deutlich machen, dass er die hohe Kunst der Wissenschaft, Sachlichkeit, Empirie, sowie Haltung und Werte der Demokratie vertrete und die aktivistische ‚Wokeness‘-Bewegung das genaue Gegenteil davon darstelle. Die Woken agierten moralisch und quasi-religiös aufgeladen (wobei es dadurch mehr um Glauben statt Wissen geht) und übten Druck auf die Demokratie aus, indem sie die Politik moralisieren (wobei nicht Argumente zählen, sondern die richtige Seite bzw. ihre), Rederechte- und verbote erteilt werden, die Repräsentation durch Quotierungen (Diversität und so) bedroht und eine antiwestliche Grundhaltung eingenommen wird.

Folgen

Als jemand, der von klein auf immer wieder Diskriminierungserfahrungen gemacht hat und sehr wahrscheinlich bis an sein Lebensende machen wird, war es an vielen Stellen verletzend und grenzüberschreitend, was bei der Tagung gesagt wurde. Weil ich seit vielen Jahren regelmäßig mit der Landeszentrale für politische Bildung als Lehrer, Fortbildner oder Referent für Demokratiebildung und SMV kooperiere und ihre Arbeit sehr schätze, hatte ich mit so einem Verlauf der Tagung nicht gerechnet und wurde überwältigt.

Druck auf Demokratie

Dass jemand auf die Idee kommt, die Bedrohung für eine Demokratie bei Personen zu sehen, die sich für eine Gesellschaft engagieren, in der niemand aufgrund seiner Hautfarbe, Religion, Nationalität oder anderer Merkmale benachteiligt, ausgegrenzt oder sogar ermordet wird, ist mehr als irritierend. Und das, während immer wieder über rechtsextreme Personen bzw. (Chat-)Gruppen bei der Polizei, beim SEK, bei der Bundeswehr, Feuerwehr, beim BND oder in der Justiz berichtet wird. Ganz im Gegenteil – die strukturellen und institutionellen Probleme wurden von ihm relativiert oder negiert.

Prof. Dr. Sander wurde als Koryphäe der politischen Bildung vorgestellt und dass jede:r Gemeinschaftskundelehrer:in seine Bücher gelesen, studiert habe. Sein Wort und sein Ansehen haben Gewicht. Oder zumindest hatten sie es einmal. (Was eine mögliche Erklärung für das Abdriften sein könnte.) So schließt sich der Kreis zur Anfangsfrage, wer bestimmt, was eine Krise ist, ob es sich um eine handelt, welche Demokratie diskutiert werden soll oder was demokratisch ist. Mit seinem Vortrag (und seinen Antworten auf Fragen im Anschluss) erhielt Sander bei dieser Tagung viel Zeit und Raum, den gedanklichen Rahmen zu setzen und Fokus zu legen.

Weil ich fassungslos während seines Vortrags über seine Aussagen bei Mastodon und Twitter schrieb, erhielt die Sache mehr Aufmerksamkeit. Natürlich auch durch diesen Beitrag. Falls dadurch morgen jemand beschließen sollte, ihn nicht mehr als Redner einzuladen, würde er das wahrscheinlich als Canceln beschreiben. Durch seine Erzählung und Logik macht er sich frei von jeglicher Kritik. (Canceln meint meiner Erfahrung nach ohnehin in den meisten Fällen, weiterhin etwas sagen und tun zu können, ohne Widerspruch und Widerstand zu erhalten.) So wird dann etwas von Grund auf Demokratisches, sich kritisch mit Istzuständen und Aussagen auseinanderzusetzen, als etwas Undemokratisches bezeichnet. Demokratie wird so zu einem willkürlichen Begriff, der nur noch die Deutungshoheit privilegierter Personen meint.    

(Die letzten beiden Teile seiner Vortrags, in denen er auf die „Transformation der Öffentlichkeit durch Digitalisierung” und „Autoritätsdistanz durch Egozentrismus” einging, habe ich nicht aufgegriffen, weil sie keine Relevanz für das Geschilderte haben und auch ähnlich unterkomplex, einseitig oder verzerrend waren.)

II. Lösungsansätze

Erwartungen und Ansprüche

Wie die knapp 30 Personen bei der Tagung reagierten, spiegelt viele solche Ereignisse wider. Ein paar Lehrkräfte äußerten sich ebenfalls kritisch, in etwa gleich viele ihren Zuspruch und die meisten schwiegen oder verhielten sich vermeintlich neutral. (Wobei ich davon ausgehe, dass jede Person, die dort erschienen war, über  das Grundwissen verfügte, dass es hier kein neutral gibt.) In den Pausen wurde dann viel in kleinen Gruppen diskutiert. So bekam ich auch von Einzelnen gesagt, wie wichtig meine Gegenrede gewesen sei. Unter vier Augen. Nicht im Plenum.

Auch wenn der Austausch mit Sander bzw. dem Gesagten zwar mehr Zeit erhielt als geplant, wurde danach das Programm fortgesetzt und (zu) viel blieb ohne Einordnung, ungesagt und ungeklärt im Raum und überdeckte den weiteren Verlauf. Die wichtige, kontroverse und kritische Debatte wurde nicht geführt. Bevor ich darauf eingehe, welche andere Lösungen möglich gewesen wären, möchte ich ein paar Fragen aufwerfen und den Lesenden (zur kritischen Selbstreflexion oder Planung) mitgeben, die mich seither beschäftigen: 

Wie verhalte ich mich als Teilnehmende:r und als Organisator:in bei einer Veranstaltung, wenn Grenzen überschritten werden? Wer bestimmt die Grenzen? Wie können möglichst günstige Rahmenbedingungen geschaffen werden, damit bestimmte Grenzen nicht überschritten werden? Wie kann man Moderator:innen darauf vorbereiten? Wie lange werden Dinge toleriert, relativiert oder ignoriert, weil sie von einer Person kommen, die einst ein hohes, höheres Ansehen genoss oder eine bestimmte Leistung erbracht hat?

Ob, wann und wie jemand einschreitet bzw. agiert, muss jede Person für sich selbst entscheiden. Das hängt von vielen Faktoren ab: Wissen, Kraft, Charakter, Haltung, Rolle, Setting und vieles mehr. Es kostet natürlich Überwindung, sich in so einem Plenum wie bei der Tagung kritisch zu äußern, weil es dadurch unangenehm wird. Für alle. (Was dabei oft ausgeblendet wird, dass es in solchen Situationen zuvor nur für Betroffene unangenehm war. Für sie ist z.B. Rassismus kein Thema, das sie sich für eine Unterhaltung aussuchen, sondern prägt ihr Leben, teilweise täglich.) 

(Mich kostet es jedes Mal einiges an Kraft, diese (auch emotionale) Arbeit zu leisten. Von Diskriminierungen Betroffenen wird übrigens oft erwartet, eine Aufgabe zu übernehmen, die nicht ihre, sondern die aller (Anwesenden) ist, wie z.B. sich zu Themen rund um “Ismen” selbst fortzubilden.)

Wer eine Veranstaltung organisiert, bestimmt den Rahmen und Inhalt. Soziale Netzwerke haben durch Transparenz und Kritik auch einen Beitrag geleistet, dass Podien diverser und Veranstaltungen partizipativer sind. Bei Prof. Dr. Sander hätte ein Blick auf seine Website oder seine Social-Media-Accounts und den dortigen letzten Veröffentlichungen geholfen, herauszufinden, wem man womit einen Raum geben wird. Hier hätte sich etwas mehr Recherchearbeit gelohnt. 

Als jemand, der selbst viele Veranstaltungen (auch zum Thema Demokratie) plant und durchführt, habe ich mich immer wieder in Situationen erlebt, in denen ich schnell eine Entscheidung treffen musste, die alle Anwesenden betraf. Das war nie einfach. Dabei mussten unzählige Dinge abgewogen werden. Nicht immer gelingt es dabei, alles richtig zu machen. Manchmal helfen aber solche Erfahrungen, den eigenen Blick zu schärfen, wofür man einsteht und was man erreichen möchte.

(Vielleicht hätte ich nach dem Vortrag von Prof. Dr. Sander die noch ausstehenden Referent:innen und Teilnehmer:innen gefragt, ob wir in einen offenen Austausch gehen, in Gruppen und im Plenum. Damit eine wesentliche Debatte geführt werden kann, von und mit den Lehrkräften, die diese morgen in ihrer Schule mit ihren Klassen, ihrem Kollegium und den Eltern ihrer Schüler:innen führen. Das ist aber hinterher immer einfach gesagt.) 

Was kann Schule leisten?

Die Realität, auf deren Grundlage Herausforderungen der politischen Bildung bzw. Demokratiebildung für Gesellschaft und Schule diskutiert werden, zeichnet ein gegenteiliges Bild zu den oben erläuterten Ausführungen der Tagung. Junge Menschen erfahren Rassismus, werden institutionell diskriminiert und Lehrkräfte müssen mit Literatur arbeiten, die Rassismus reproduziert und Menschen verletzt. Ein zentrales Problem dabei ist, dass Diskriminierungen von zu vielen Menschen nicht gesehen und erkannt werden. (Weshalb Dominik Lucha u.a. diesen Instagram-Account zu Alltagsrassismus erstellt hat.)

Natürlich steigt in einer sich ständig wandelnden Gesellschaft der Wunsch, aber auch die Notwendigkeit nach Veränderungen. Das betrifft ebenfalls demokratische Strukturen und Prozesse, die an manchen Stellen immer weniger bis gar nicht mehr funktionieren. Für Menschen, die dabei einen Machtverlust befürchten, müssen Forderungen nach Gleichberechtigung, Mitsprache und Mitbestimmung wie eine große Gefahr wirken. Da Schulen an sich einen Raum und ein Konzept darstellen, in dem die Macht klar und hierarchisch angelegt ist, wirkt jede Bemühung nach mehr Beteiligung junger Menschen dem System entgegen und erfährt Widerstand. 

Trotz mancher ungünstiger Bedingung machen sich (meiner beruflichen Erfahrung nach) immer mehr Schulleitungen und Lehrkräfte auf den Weg, weil sie im Kontext der globalen Krisen eine demokratische Verantwortung sehen und annehmen. Sie möchten jungen Menschen an ihrer Schule ermöglichen, dass sie mehr Demokratie erfahren, (er)leben können. Das gelingt besonders gut, wenn alle am Schulleben Beteiligten partizipieren können, ein wirksamer und nachhaltiger Prozess angegangen (was am Ende auf eine Frage der Ressourcen und Priorität hinausläuft), von möglichst vielen getragen und von einer diversen Gruppe koordiniert wird.

Im Ethikunterricht diskutieren wir viel über komplexe gesellschaftliche Themen, über die öffentlich kontrovers gestritten wird. Die Schüler:innen sind dabei entweder gut informiert oder interessiert, Neues zu lernen und andere Perspektiven zu erfahren. Der Konsens im Raum lautet: Wir wissen, nicht immer alles richtig zu machen, benennen offen Probleme, suchen gemeinsam nach Lösungen, gestehen Fehler ein, entschuldigen uns und arbeiten zusammen daran, es für alle besser zu machen. Das gilt für alle Schüler:innen, wie auch für mich als Lehrkraft. 

So ein beschriebener Aushandlungsraum erfordert ein Umdenken und einen Rollenwandel bei allen Beteiligten und kostet viel Zeit, Kraft und gegenseitiges Vertrauen. Es ist meiner Erfahrung nach aber ein wirksamer Ansatz, wie junge Menschen lernen, Verantwortung zu übernehmen, Probleme zu lösen, sich als selbstwirksam erfahren, konstruktiv miteinander streiten und einen Konsens aushandeln lernen. Demokratie ist kein Endzustand, sondern muss immer wieder neu erkämpft werden. Was junge Menschen dazu in der Schule lernen, wird die zukünftige Gesellschaft prägen.