Die Veröffentlichung der CORRECTIV-Recherche, in der faschistische Deportationspläne aufgedeckt wurden, hat an mancher Stelle die Diskussion über den Zustand der Demokratie in Deutschland aufleben lassen. In einem hörenswerten Beitrag bei deutschlandfunk stellte der Politikwissenschaftler Claus Leggewie dazu die Diagnose:
„Das demokratische Deutschland pennt. Alle sind mit ihren Dingen beschäftigt und merken nicht, was läuft.“
Menschen, die diese Einordnung teilen, haben in mehreren Städten zu Demonstrationen aufgerufen und andere aufgefordert, ihrem Beispiel zu folgen. Weshalb ich u.a. für den 21.01.2024 auf dem Platz der Alten Synagoge in Freiburg um 15 Uhr eine Versammlung bei der Stadt angemeldet habe, zu der hiermit alle Demokrat*innen aus Freiburg und der Region eingeladen sind. Hier findet man nähere Infos zum Programm.
Solidarität
Das Kernziel der Versammlung ist, dass möglichst viele Bürger*innen sich deutlich zur Demokratie bekennen, den öffentlichen Raum einnehmen und sich und ihre Haltung sichtbar machen. Wenn ich ehrlich bin, wünsche ich mir Solidarität. Es ist nicht so, dass Menschen mit einer Einwanderungsgeschichte (sprich über 20 Millionen in Deutschland), die es gewohnt sind, aufgrund ihrer Hautfarbe, Nationalität, Religion oder sonstiger äußerer Merkmale diskriminiert zu werden, von den Deportationsplänen überrascht wurden. Es gehört zu ihrem Alltag und ist eine fremdbestimmte Aufgabe, damit umgehen zu lernen, dass eine Partei, die im Bundestag sitzt bzw. ihr Fraktionssprecher solche Dinge sagt:
„Wir können die [Migranten] nachher immer noch alle erschießen. Das ist überhaupt kein Thema. Oder vergasen, oder wie du willst. Mir egal!“
Wer die AfD wählt, wählt genau das. Und das ist nur ein Beispiel von vielen. Deshalb schließen sich die faschistischen Deportationspläne vom Potsdam-Treffen an ein systematisches Vorgehen und lange Reihe von menschen- und demokratiefeindlichen Ideen, die auf einem Nährboden von konstruierter Angst und geschürtem Hass gedeihen sollen. Und doch ist dieses Mal anders. Vielleicht liegt es an der weltweiten politischen Entwicklung der letzten Jahre, in der vermehrt Autokraten drohen an die Macht zu gelangen oder es bereits sind. Vielleicht liegt es an den drei Landtagswahlen, die 2024 anstehen, bei denen die AfD aktuell die höchsten Umfragewerte hat und in zweien davon vom Verfassungsschutz als “gesichert rechtsextrem“ eingestuft wurde. Vielleicht liegt es auch am lauten Schweigen dazu, von zu vielen Menschen, die denken, sie würde das alle nicht betreffen oder das sei gar nicht so dramatisch.
Es wird immer wieder auch von der “schweigenden Mehrheit“ gesprochen, dass nur Wenige sehr laut seien, diese aber mit ihren extremen Positionen die realen Verhältnisse erfolgreich verzerren würden, weil sie zusätzlich durch die Aufmerksamkeitsökonomie medial verstärkt würden. Das mag weiterhin alles zutreffen. Nur sicher bin ich mir nicht mehr, auch nicht bezüglich meiner Zukunft in diesem Land. Fragt eure Freunde und Bekannten „mit Migrationshintergrund“ wie es ihnen geht. Fragt sie, ob und was sie bereits planen zu tun, wenn sich die Lage in Deutschland weiter verschärft. (Das ist übrigens nicht mit einer Episode von „Goodbye Deutschland! Die Auswanderer “ bei Vox gleichzusetzen, weil ich das in Kommentarspalten sozialer Netzwerke gelesen habe. Es bedeutet, dass Menschen aus ihrem sozialen Umfeld entwurzelt werden, fliehen und ihr Zuhause hinter sich lassen müssen. Die belastenden Auseinandersetzung mit dieser Idee, finden schon statt. Mit Folgen.) Für diese Menschen wäre es ein klares Zeichen der Solidarität, zu den Demos zu gehen und sich darüber hinaus solidarisch zeigen.
Freiheit
Die CORRECTIV-Recherche zeigte auf, was lange bekannt ist: dass es nicht die AfD allein ist, die faschistisches Ideen verwirklichen möchte, sondern sich im Hintergrund gut vernetzte Vermögende, Mittelständler, bürgerliche und universitäre Kreise, Personen aus der Wirtschaft, Vereinen, Stiftungen und Hochschulen sich kümmern und solche Pläne unterstützen. Sie wollen die Demokratie gezielt schwächen, indem sie Wahlen anzweifeln, das Verfassungsgericht diskreditieren, andere Meinungen zurückdrängen und öffentlich-rechtliche Medien bekämpfen. Es ist ein Netzwerk aus verschiedenen Bereichen der Gesellschaft und bedroht alle Demokrat*innen. Weshalb nur ein breites antifaschistisches Bündnis die Antwort darauf sein kann. Dieses benötigt u.a. ein geschlossenes Vorgehen demokratischer Parteien, worauf die Sozialpsychologin Pia Lamberty in diesem Interview verweist:
„Demagogen und autoritäre Kräfte gibt es in der Geschichte demokratischer Parteien immer wieder. Wie erfolgreich und einflussreich diese Gruppierungen werden können, liegt auch daran, wie sehr sich demokratische Parteien dem entgegenstellen, wie klar die roten Linien sind, die gemeinsamen Anstrengungen, diese antidemokratischen Gruppierungen zu isolieren.“
Es ist aber auch notwendig, dass Unternehmen, Institutionen, Vereine oder sonstige Gruppierungen und Personen ihre demokratische Verantwortung anerkennen und wahrnehmen, solange das möglich ist. Die Freiheit aller steht auf dem Spiel, auch wenn die Auswirkungen noch nicht für alle erkenn- und spürbar sind. Die Zeit wird dafür immer knapper und der Handlungsdruck steigt. Es braucht jetzt ein Aufbäumen der demokratischen Zivilgesellschaft, die gemeinsam erarbeitet, wie es besser gelingen kann, eine Demokratie zu schützen und zu stärken. Auf Bundes-, Landes- und vor allem auf kommunaler Ebene.
Demokratie und Digitalität
Was nach der Veröffentlichung der CORRECTIV-Recherche zuerst mit einzelnen Social Media-Beiträgen im Netz begann, in denen Personen auf diversen Kanälen Aufzählungen teilten, in welcher Stadt es wann eine Demonstration geben soll, mündete irgendwann als Kalender gebündelt auf dieser Website. Infos zur Versammlung in Freiburg werden andere und ich unter dem Hashtag #DemokratieVereint in unterschiedlichen sozialen Netzwerken teilen. Die Idee des Hashtags ist aber größer.
#DemokratieVereint
Wer Hilfe benötigt oder etwas lernen möchte, findet beides im Netz. Weshalb nicht diese Funktion noch stärker nutzen? Wie wäre es, wenn Bürger*innen gemeinsam an konkreten Ansätzen arbeiten, wie die Demokratie gestärkt und geschützt werden kann? Kurz- und langfristig. Wie wäre es, wenn möglichst viele dauerhaft ihr Wissen, ihre Perspektiven und Ressourcen im Netz miteinander teilen und sie mit dem Hashtag #DemokratieVereint transparent und zugänglich machen würden? Es gab schon andere Hashtags, die zu vielen Einblicken, Erkenntnissen und Netzwerken geführt und gesellschaftliche Debatten ausgelöst haben. Weshalb keine horizontale, demokratische Bewegung, die durch einen Hashtag verbunden und sichtbar wird?
Es gibt bereits viele Vereine, Initiativen, Bündnisse und sonstige Gruppierungen und Personen, die über Expertise verfügen, wie eine Demokratie gestärkt und geschützt werden kann. Es gibt auch zahlreiche Plattformen und Angebote im Netz, die sich damit befassen. Und doch sind sie vielen nicht bekannt und vernetzt. Ein gemeinsamer Hashtag könnte transparent machen, was vorliegt, nötigt und gewünscht ist oder gesucht wird. Weshalb nicht die soziale Netzwerke gemeinsam mit Solidarität fluten? Das könnte auch die Frage klären, was man nach oder am besten auf einer Demo macht: Verbündete suchen, sich austauschen und vernetzen.
Aus einem Gespräch mit einer befreundeten Psychologin habe gelernt, dass man sich in Krisenzeiten schnell vom gewaltigen und komplexen Aufgabenberg überwältigt fühlt und nicht weiter weiß und dass es dann hilft, zu überlegen, welchen Beitrag man selbst leisten kann. Sei er noch so klein. Denn jeder Schritt ist eine Handlung, die einem wieder das Gefühl von Kontrolle gibt. Mit diesem Beitrag hoffe ich einige, kleine und große nächste Schritte aufgezeigt zu haben. Zur Demo gehen ist einer. Gute Bücher, Videos, Fragen, Ideen oder sonstige Beiträge, die helfen könnten eine Demokratie zu schützen und zu stärken, mit dem Hashtag #DemokratieVereint teilen ein anderer. Mit der Familie, Freunden und Bekannten darüber zu diskutieren, wie für alle Menschen ein würdevolles Leben erreicht werden kann, ist ebenfalls ein wichtiger Beitrag. Wir auch immer der nächster Schritt aussehen mag, wünsche ich allen Demokrati*innen viel Erfolg dabei: #DemokratieVereint.
Demokratie unter Druck lautete der Titel einer Tagung der Landeszentrale für politische Bildung, bei der letzten Dienstag und Mittwoch die Herausforderungen der politischen Bildung bzw. Demokratiebildung für Gesellschaft und Schule aus “diversen“ Perspektiven betrachtet und im Anschluss diskutiert werden sollten. Prof. Dr. Wolfgang Sander (von der Justus-Liebig-Universität Gießen) erläuterte dabei in seinem Vortrag ausführlich, welche Gefahren für eine Demokratie von einer aktivistischen “Wokeness-Bewegung“ ausgehen würden, die lächerliche Diversitätsforderungen stelle, Student:innen zum Gendern zwingen möchte, einen Identitätskampf führe, Sprachverbote verhänge und Cancel Culture betreibe. Die Ausführungen von Sander stießen bei einigen Anwesenden auf Resonanz, sie hielten flammende Reden, weshalb sie nicht mehr das Z- oder N-Wort sagen dürfen (wobei sie es ausgesprochen haben).
Direkt nach seinem Vortrag hielt ich eine Gegenrede. Manche Lehrkräfte schlossen sich meiner Kritik an. Später hielten meine Kollegin und ich unseren Impulsvortrag, den wir in der Zwischenzeit um ein paar Folien verändert hatten, um einige Aussagen von Herrn Sander besser einordnen zu können. Um besser zu verstehen, was vorgefallen war, tauschte ich mich in den letzten Tagen mit einigen Personen zum Geschehen aus. Ein Fazit dieser Gespräche war, dass der Verlauf der Tagung widerspiegelt, wie viele Debatten rund um Demokratie/-bildung geführt werden, unter welchen Rahmenbedingungen das stattfindet und welche Hürden es zu überwinden gilt.
Weil ich denke, dass das häufiger, ehrlicher und öffentlicher diskutiert werden sollte, fasse ich hier einige wesentliche Gedanken und Fragen zusammen. Dieser Beitrag ist keine Replik auf den Vortrag von Wolfgang Sander. Es geht im Prinzip nicht einmal um ihn oder diese konkrete Tagung. Beides steht nur stellvertretend für Probleme und Konflikte, die vielerorts existieren und stattfinden.
Demokratie unter Druck?
Wer diskutieren möchte, ob sich eine Demokratie in einer Krise befindet, muss nicht nur zuerst definieren, wann von einer Krise gesprochen wird, sondern auch klären, was unter Demokratie zu verstehen ist. Eine zentrale Frage dazu lautet: Wer bestimmt, wann eine Krise vorliegt und was demokratisch ist?? (Wie ein Ergebnis auf diese Frage aussehen kann, zeigt diese Visualisierung zur Wahl in Berlin.) Bei einer Tagung kann es aufschlussreich sein, sich die Redezeiten der Beiträger:innen anzusehen.
Meine Kollegin und ich erhielten am Nachmittag 20 Minuten für einen kurzen Impulsvortrag, um unsere Expertise und Perspektive aus der Praxis zur Demokratiebildung an Schulen vorzustellen. Auf einer Folie bildeten wir Namen, Foto und jeweilige Redezeiten der Referent(:inn)en ab. (Alles Infos, die wir dem Flyer zur Veranstaltung entnahmen.) Manchmal kann eine Kombination aus Bild und Text eine besondere Wirkung entfalten und zum Reflektieren anregen.
Was von uns in der Planung als freundlicher (und humorvoll verpackter) Hinweis (dass mehr Personen mit dem Vornamen Wolfgang als Frauen bei der Tagung vortragen) und Einladung an alle gedacht war, auch das eigene Denken und Handeln stets kritisch zu hinterfragen, sollte die Fortführung einer Auseinandersetzung werden, die zuvor durch den Vortrag von Sander ausgelöst wurde.
Wenn Wokeness und nicht Rassismus das Problem ist
Sander erhielt eine gute Stunde Zeit, um seine Gedanken auszubreiten, vor welchen Herausforderungen Gesellschaft und Schulen im Kontext der politischen Bildung stehen. Nach einer kurzen Einführung zum Druck auf die Demokratie durch Extremismus, widmete er die meiste Zeit seiner Ausführungen der aktivistischen ‚Wokeness‘-Bewegung. Es würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, alles aufzuführen und auf jeden Aspekt einzugehen. Zwei Punkte, die genau so auf einer seiner Präsentationsfolien standen, möchte ich aber exemplarisch aufführen:
Behauptung, Diskriminierungen seien (intersektional) miteinander verknüpft und bildeten ein apersonales Gewebe von Machtstrukturen, das sich über Sprache (‚Diskurse‘) und daraus entstehende Normalitätsvorstellungen vermittle und absichere. Beispiel: Rassismus sei eine machtförmige Struktur, ein „weißes Dominanzsystem“, „sodass die Imagination von rassismusfreien Räumen nicht möglich ist.“ (Karim Fereidooni)
Allein anhand der einfachen oder auch halben Anführungszeichen (‚…‘), die genutzt werden, um eine wissenschaftlich unübliche Bezeichnung (u.a. Umgangssprache) darzustellen, kann man erahnen, was zu den Punkten gesagt wurde. Es wurde so dargestellt, als könne und würde man Diskriminierungen frei erfinden und so eine endlos lange, künstliche Liste erzeugen. Beim zweiten Punkt wird es noch deutlicher, weil alles Beschriebene direkt zu Beginn als Behauptung abgewertet wird. Aussagen von Karim Fereidooni (dessen Name übrigens auf der Präsentation von Sander falsch geschrieben wurde) wurden meiner Erinnerung nach nicht richtig oder in einem verzerrenden Kontext wiedergegeben.
Sander machte sich darüber lustig, dass scheinbar alle rassistisch sozialisiert sein sollten, dass es keinen Rassismus gegen Weiße geben könne und deutete an, dass Karim Fereidooni nicht (so richtig) wissenschaftlich arbeiten würde. Fachliteratur zu Rassismus entwerte er als Szene-Literatur, als sei das etwas, das in irgendwelchen Clubs gehandelt wird. An Empirie würde es hier fehlen. Er verspottete Betroffene von Rassismus, indem er sagte, dass sie für sich beanspruchen würden, zu bestimmen, was rassistisch sei und man allein daran ableiten könne, wie unsachlich und lächerlich diese Debatte sei.
Woke vs. Wissenschaft
Es folgten unzählige Ausführungen und Anekdoten darüber, dass nur noch schwule Personen in Filmen Schwule spielen dürfen, dass an einer Hochschule Student:innen eine Benachteiligung bei der Notengebung erfahren, wenn sie nicht gendern, dass Wörter und Literatur verboten und Straßennamen geändert werden, dass Personen wegen der aktivistischen ‚Wokeness‘-Bewegung gecancelt werden und den Job verlieren und vieles mehr. Außerdem verhöhnte er die Forderung nach Diversität, da auch hier die Liste endlos und deshalb am Ende überhaupt nicht umsetzbar sei, Gremien, Panels oder sonstige Gruppierungen immer mit einer Frau, einer migrantischen oder einer behinderten Person usw. zu besetzen.
Sander wollte deutlich machen, dass er die hohe Kunst der Wissenschaft, Sachlichkeit, Empirie, sowie Haltung und Werte der Demokratie vertrete und die aktivistische ‚Wokeness‘-Bewegung das genaue Gegenteil davon darstelle. Die Woken agierten moralisch und quasi-religiös aufgeladen (wobei es dadurch mehr um Glauben statt Wissen geht) und übten Druck auf die Demokratie aus, indem sie die Politik moralisieren (wobei nicht Argumente zählen, sondern die richtige Seite bzw. ihre), Rederechte- und verbote erteilt werden, die Repräsentation durch Quotierungen (Diversität und so) bedroht und eine antiwestliche Grundhaltung eingenommen wird.
Folgen
Als jemand, der von klein auf immer wieder Diskriminierungserfahrungen gemacht hat und sehr wahrscheinlich bis an sein Lebensende machen wird, war es an vielen Stellen verletzend und grenzüberschreitend, was bei der Tagung gesagt wurde. Weil ich seit vielen Jahren regelmäßig mit der Landeszentrale für politische Bildung als Lehrer, Fortbildner oder Referent für Demokratiebildung und SMV kooperiere und ihre Arbeit sehr schätze, hatte ich mit so einem Verlauf der Tagung nicht gerechnet und wurde überwältigt.
Druck auf Demokratie
Dass jemand auf die Idee kommt, die Bedrohung für eine Demokratie bei Personen zu sehen, die sich für eine Gesellschaft engagieren, in der niemand aufgrund seiner Hautfarbe, Religion, Nationalität oder anderer Merkmale benachteiligt, ausgegrenzt oder sogar ermordet wird, ist mehr als irritierend. Und das, während immer wieder über rechtsextreme Personen bzw. (Chat-)Gruppen bei der Polizei, beim SEK, bei der Bundeswehr, Feuerwehr, beim BND oder in der Justiz berichtet wird. Ganz im Gegenteil – die strukturellen und institutionellen Probleme wurden von ihm relativiert oder negiert.
Prof. Dr. Sander wurde als Koryphäe der politischen Bildung vorgestellt und dass jede:r Gemeinschaftskundelehrer:in seine Bücher gelesen, studiert habe. Sein Wort und sein Ansehen haben Gewicht. Oder zumindest hatten sie es einmal. (Was eine mögliche Erklärung für das Abdriften sein könnte.) So schließt sich der Kreis zur Anfangsfrage, wer bestimmt, was eine Krise ist, ob es sich um eine handelt, welche Demokratie diskutiert werden soll oder was demokratisch ist. Mit seinem Vortrag (und seinen Antworten auf Fragen im Anschluss) erhielt Sander bei dieser Tagung viel Zeit und Raum, den gedanklichen Rahmen zu setzen und Fokus zu legen.
Weil ich fassungslos während seines Vortrags über seine Aussagen bei Mastodon und Twitter schrieb, erhielt die Sache mehr Aufmerksamkeit. Natürlich auch durch diesen Beitrag. Falls dadurch morgen jemand beschließen sollte, ihn nicht mehr als Redner einzuladen, würde er das wahrscheinlich als Canceln beschreiben. Durch seine Erzählung und Logik macht er sich frei von jeglicher Kritik. (Canceln meint meiner Erfahrung nach ohnehin in den meisten Fällen, weiterhin etwas sagen und tun zu können, ohne Widerspruch und Widerstand zu erhalten.) So wird dann etwas von Grund auf Demokratisches, sich kritisch mit Istzuständen und Aussagen auseinanderzusetzen, als etwas Undemokratisches bezeichnet. Demokratie wird so zu einem willkürlichen Begriff, der nur noch die Deutungshoheit privilegierter Personen meint.
(Die letzten beiden Teile seiner Vortrags, in denen er auf die „Transformation der Öffentlichkeit durch Digitalisierung” und „Autoritätsdistanz durch Egozentrismus” einging, habe ich nicht aufgegriffen, weil sie keine Relevanz für das Geschilderte haben und auch ähnlich unterkomplex, einseitig oder verzerrend waren.)
II. Lösungsansätze
Erwartungen und Ansprüche
Wie die knapp 30 Personen bei der Tagung reagierten, spiegelt viele solche Ereignisse wider. Ein paar Lehrkräfte äußerten sich ebenfalls kritisch, in etwa gleich viele ihren Zuspruch und die meisten schwiegen oder verhielten sich vermeintlich neutral. (Wobei ich davon ausgehe, dass jede Person, die dort erschienen war, über das Grundwissen verfügte, dass es hier kein neutral gibt.) In den Pausen wurde dann viel in kleinen Gruppen diskutiert. So bekam ich auch von Einzelnen gesagt, wie wichtig meine Gegenrede gewesen sei. Unter vier Augen. Nicht im Plenum.
Auch wenn der Austausch mit Sander bzw. dem Gesagten zwar mehr Zeit erhielt als geplant, wurde danach das Programm fortgesetzt und (zu) viel blieb ohne Einordnung, ungesagt und ungeklärt im Raum und überdeckte den weiteren Verlauf. Die wichtige, kontroverse und kritische Debatte wurde nicht geführt. Bevor ich darauf eingehe, welche andere Lösungen möglich gewesen wären, möchte ich ein paar Fragen aufwerfen und den Lesenden (zur kritischen Selbstreflexion oder Planung) mitgeben, die mich seither beschäftigen:
Wie verhalte ich mich als Teilnehmende:r und als Organisator:in bei einer Veranstaltung, wenn Grenzen überschritten werden? Wer bestimmt die Grenzen? Wie können möglichst günstige Rahmenbedingungen geschaffen werden, damit bestimmte Grenzen nicht überschritten werden? Wie kann man Moderator:innen darauf vorbereiten? Wie lange werden Dinge toleriert, relativiert oder ignoriert, weil sie von einer Person kommen, die einst ein hohes, höheres Ansehen genoss oder eine bestimmte Leistung erbracht hat?
Ob, wann und wie jemand einschreitet bzw. agiert, muss jede Person für sich selbst entscheiden. Das hängt von vielen Faktoren ab: Wissen, Kraft, Charakter, Haltung, Rolle, Setting und vieles mehr. Es kostet natürlich Überwindung, sich in so einem Plenum wie bei der Tagung kritisch zu äußern, weil es dadurch unangenehm wird. Für alle. (Was dabei oft ausgeblendet wird, dass es in solchen Situationen zuvor nur für Betroffene unangenehm war. Für sie ist z.B. Rassismus kein Thema, das sie sich für eine Unterhaltung aussuchen, sondern prägt ihr Leben, teilweise täglich.)
(Mich kostet es jedes Mal einiges an Kraft, diese (auch emotionale) Arbeit zu leisten. Von Diskriminierungen Betroffenen wird übrigens oft erwartet, eine Aufgabe zu übernehmen, die nicht ihre, sondern die aller (Anwesenden) ist, wie z.B. sich zu Themen rund um “Ismen” selbst fortzubilden.)
Wer eine Veranstaltung organisiert, bestimmt den Rahmen und Inhalt. Soziale Netzwerke haben durch Transparenz und Kritik auch einen Beitrag geleistet, dass Podien diverser und Veranstaltungen partizipativer sind. Bei Prof. Dr. Sander hätte ein Blick auf seine Website oder seine Social-Media-Accounts und den dortigen letzten Veröffentlichungen geholfen, herauszufinden, wem man womit einen Raum geben wird. Hier hätte sich etwas mehr Recherchearbeit gelohnt.
Als jemand, der selbst viele Veranstaltungen (auch zum Thema Demokratie) plant und durchführt, habe ich mich immer wieder in Situationen erlebt, in denen ich schnell eine Entscheidung treffen musste, die alle Anwesenden betraf. Das war nie einfach. Dabei mussten unzählige Dinge abgewogen werden. Nicht immer gelingt es dabei, alles richtig zu machen. Manchmal helfen aber solche Erfahrungen, den eigenen Blick zu schärfen, wofür man einsteht und was man erreichen möchte.
(Vielleicht hätte ich nach dem Vortrag von Prof. Dr. Sander die noch ausstehenden Referent:innen und Teilnehmer:innen gefragt, ob wir in einen offenen Austausch gehen, in Gruppen und im Plenum. Damit eine wesentliche Debatte geführt werden kann, von und mit den Lehrkräften, die diese morgen in ihrer Schule mit ihren Klassen, ihrem Kollegium und den Eltern ihrer Schüler:innen führen. Das ist aber hinterher immer einfach gesagt.)
Was kann Schule leisten?
Die Realität, auf deren Grundlage Herausforderungen der politischen Bildung bzw. Demokratiebildung für Gesellschaft und Schule diskutiert werden, zeichnet ein gegenteiliges Bild zu den oben erläuterten Ausführungen der Tagung. Junge Menschen erfahren Rassismus, werden institutionell diskriminiert und Lehrkräfte müssen mit Literatur arbeiten, die Rassismus reproduziert und Menschen verletzt. Ein zentrales Problem dabei ist, dass Diskriminierungen von zu vielen Menschen nicht gesehen und erkannt werden. (Weshalb Dominik Lucha u.a. diesen Instagram-Account zu Alltagsrassismus erstellt hat.)
Natürlich steigt in einer sich ständig wandelnden Gesellschaft der Wunsch, aber auch die Notwendigkeit nach Veränderungen. Das betrifft ebenfalls demokratische Strukturen und Prozesse, die an manchen Stellen immer weniger bis gar nicht mehr funktionieren. Für Menschen, die dabei einen Machtverlust befürchten, müssen Forderungen nach Gleichberechtigung, Mitsprache und Mitbestimmung wie eine große Gefahr wirken. Da Schulen an sich einen Raum und ein Konzept darstellen, in dem die Macht klar und hierarchisch angelegt ist, wirkt jede Bemühung nach mehr Beteiligung junger Menschen dem System entgegen und erfährt Widerstand.
Trotz mancher ungünstiger Bedingung machen sich (meiner beruflichen Erfahrung nach) immer mehr Schulleitungen und Lehrkräfte auf den Weg, weil sie im Kontext der globalen Krisen eine demokratische Verantwortung sehen und annehmen. Sie möchten jungen Menschen an ihrer Schule ermöglichen, dass sie mehr Demokratie erfahren, (er)leben können. Das gelingt besonders gut, wenn alle am Schulleben Beteiligten partizipieren können, ein wirksamer und nachhaltiger Prozess angegangen (was am Ende auf eine Frage der Ressourcen und Priorität hinausläuft), von möglichst vielen getragen und von einer diversen Gruppe koordiniert wird.
Im Ethikunterricht diskutieren wir viel über komplexe gesellschaftliche Themen, über die öffentlich kontrovers gestritten wird. Die Schüler:innen sind dabei entweder gut informiert oder interessiert, Neues zu lernen und andere Perspektiven zu erfahren. Der Konsens im Raum lautet: Wir wissen, nicht immer alles richtig zu machen, benennen offen Probleme, suchen gemeinsam nach Lösungen, gestehen Fehler ein, entschuldigen uns und arbeiten zusammen daran, es für alle besser zu machen. Das gilt für alle Schüler:innen, wie auch für mich als Lehrkraft.
So ein beschriebener Aushandlungsraum erfordert ein Umdenken und einen Rollenwandel bei allen Beteiligten und kostet viel Zeit, Kraft und gegenseitiges Vertrauen. Es ist meiner Erfahrung nach aber ein wirksamer Ansatz, wie junge Menschen lernen, Verantwortung zu übernehmen, Probleme zu lösen, sich als selbstwirksam erfahren, konstruktiv miteinander streiten und einen Konsens aushandeln lernen. Demokratie ist kein Endzustand, sondern muss immer wieder neu erkämpft werden. Was junge Menschen dazu in der Schule lernen, wird die zukünftige Gesellschaft prägen.
„Economics is the mother tongue of public policy, the language of public life, and the mindset that shapes society.“ (Kate Raworth – Doughnut Economics)
Es herrscht die Überzeugung bzw. ein allgemeiner Konsens, dass die Grundlagen zukünftiger Gesellschaften in der Schule gelegt werden. Wer das Buch von Kate Raworth gelesen hat, wird sich deshalb automatisch die Frage stellen, wie die Ideen der Donut-Ökonomie einen Weg in die Schulen finden könnten. Sie erklärt in Doughnut Economics eindrücklich und ausführlich, wie überholt das verbreitete wirtschaftliche Denken ist und liefert konkrete Bilder und Ansätze, die eine zeitgemäße Alternative zum dominierenden Missverständnis und Mythos des grenzenlosen Wachstums darstellen und dabei die verschiedenen Krisen unserer Zeit berücksichtigen. Die Donut-Ökonomie ist ein Wirtschaftsmodell, das darauf abzielt, den ökologischen und sozialen Herausforderungen unserer Zeit zu begegnen, indem es ein Gleichgewicht zwischen den Bedürfnissen der Gesellschaft und den Grenzen des Planeten schafft.
Natürlich wäre es der einfachste und übliche Weg, ihre Gedanken, Perspektiven und Ideen aus dem Buch mit Schüler:innen im Unterricht zu besprechen. Es bieten sich zahlreiche Fächer dafür an, einiges an Material liegt vor und lässt sich sicher mit den Bildungsplänen vereinbaren. Andererseits handelt es sich hier nicht nur um ein Thema, sondern um ein Grundverständnis von sich und der Welt, das im besten Fall erfahren und gelebt werden müsste, wenn es nachhaltig und wirksam sein soll. Hier kommt eine Idee ins Spiel, die heute Nachmittag bei einem Kaffee mit einem Kollegen entstanden ist und die ich hier als Anregung teilen möchte (in der Hoffnung, dass an manchen Stellen mit ihr experimentiert wird).
(Kurze Geschichte am Rande: Als ich zum Buch von Kate Raworth twitterte, schlug sie mir vor, mich auf der DEAL-Plattform (Doughnut Economics Action Lab) anzumelden, auf der sich Menschen weltweit vernetzen und austauschen sollen, um mit ihren Expertisen und Perspektiven die Ansätze der Donut-Ökonomie in der Breite ankommen zu lassen. Ein Kollege, der an einer Freiburger Schule unterrichtet und sich beim Thema Nachhaltigkeit engagiert, hat sich vor wenigen Tagen ebenfalls auf der Plattform angemeldet undmich als lokalen Verbündeten entdeckt. Was zum gemeinsamen Kaffee führte. Die Idee der Plattform scheint zumindest bei uns aufzugehen.)
Schule als Staat
Wer das Projekt „Schule als Staat“ nicht kennen sollte, findet hier einige hilfreiche Links, auch zu Schulen, die es durchgeführt und im Netz dokumentiert haben. Kurz und grob geht es darum, dass eine Schule sich ein Schuljahr lang mit der Idee beschäftigt, einen eigenen Staat, mit eigenen Strukturen und Regeln zu entwerfen und am Ende eines Schuljahres (meist in der letzten Schulwoche) darin ein paar Tage zu leben. Dabei finden in der Regel in verschiedenen Settings (Klassen, Stufenversammlungen, Vollversammlungen usw.) Infos, Diskussionen und Aushandlungsprozesse über Staatsform, Wappen, Namen, Währung und viele andere Dinge statt.
Eines der wesentlichen Ziele dieses Projektes ist, dass junge Menschen sich ausführlich und vertieft damit auseinandersetzen sollen, welche Werte ihnen wichtig sind, welche Werte sie als Schulgemeinschaft teilen und wie sich eine Gesellschaft daran orientierend erfolgreich organisieren lässt. Normalerweise wird der Schwerpunkt auf die politischen bzw. demokratischen Strukturen und Prozesse gelegt und Vorstellungen, Modelle der Ökonomie (wie z.B. der Homo oeconomicus) werden ohne eine kritische Auseinandersetzung reproduziert. So kann es schnell dazu kommen, dass an vielen Stellen die Frage dominiert, wie sich mit möglichst wenig möglichst viel erwirtschaften lässt. Hier könnte die Donut-Ökonomie ins Spiel kommen. (Bei diesem konkreten Beispiel: hin zu einem anderen Menschenbild– vom rationalen Wirtschaftsmenschen zum sozial anpassungsfähigen Menschen.)
Klassen oder Gruppen stellen sich ab einem bestimmten Zeitpunkt beim Projekt die Frage, welche konkrete Aufgabe sie in dem von ihnen geschaffenen Staat übernehmen möchten. Wenn sie sich auf einen wirtschaftlichen Beitrag einigen, denkt man gewöhnlicherweise über Geschäftsmodelle nach und orientiert sich an Konzepten, die bereits aus ihrer Lebenswelt bekannt sind. Was wäre, wenn hier von Beginn an im wirtschaftlichen Handlungsspielraum des Donuts (siehe Abbildung oben) gedacht werden würde, indem davor die ökologische Obergrenze und die gesellschaftliche Grundlage erfasst worden wären? Was wäre, wenn dabei gemeinsam Ideen entwickelt werden würden, die auf Wiederverwertung zielen und nicht auf eine Wegwerfwirtschaft?
So, wie Schüler:innen bei politischen Fragen diverse Impulse und Zugänge zu den unterschiedlichen Staatsformen erhalten und diese im Anschluss diskutiert werden, lässt es sich auch einführen (und etablieren), Ideen einer zeitgemäßen Ökonomie zu ergründen und zu debattieren. Schule als Staat scheint prädestiniert dafür zu sein, sich die Zeit zu nehmen, junge Menschen neue, eigene Bilder einer Wirtschaft zeichnen zu lassen, die ihren Werten folgt. Wenn schon bei Schule als Staat alles grundsätzlich zur Debatte stehen soll, weshalb nicht auch das Wirtschaftssystem? Weshalb nicht die sieben Leitprinzipien von Kate Raworth an dieser Stelle kennenlernen und diskutieren lassen? Sie arbeitet übrigens in Amsterdam an einem Wirtschaftsraum, der diesen Prinzipien folgt. Weshalb nicht Schüler:innen ihren eigenen Staat als so einen Wirtschaftsraum gestalten und in ihm leben lassen?
Schule als Staat ist ein gewaltiges Projekt, erfordert viele Ressourcen und vor allem eine breite Bereitschaft der Schulleitung und Lehrkräfte, diese Idee mitzutragen. Es braucht auch eine Projektgruppe (aus einigen Lehrkräften und Schüler:innen), die alles koordiniert. Schule als Staat war immer ein besonderer Ansatz, Demokratiebildung, Selbstwirksamkeit und Gemeinschaft auf schulischer Ebene zu erfahren. Mit der Donut-Ökonomie könnten einige weitere, wesentliche und notwendige Aspekte hinzukommen, die Schule jungen Menschen bieten sollte.