Letzten Sonntag deaktivierte ich nach fast zehn Jahren meinen Twitter-Account bzw. mittlerweile X-Account und löschte die Twitter-App von allen Geräten. Es war eine persönliche, aber auch politische Entscheidung. Auch wenn das unterhaltsame GIFs, lustige Memes oder süßer Katzencontent einen immer wieder vergessen lassen können: soziale Netzwerke sind politisch. Wer und was gesehen wird, ist bzw. wird relevant gemacht und prägt öffentliche Debatten oder sogar politische Entscheidungen. Soziale Netzwerke haben nicht nur zu grundlegenden Veränderungen in vielen Bereichen geführt, sie unterliegen auch selbst einem stetigen Wandel. Musk und sein Projekt X sind ein guter Anlass, darüber zu sprechen, wie soziale Netzwerke funktionieren, wirken und genutzt werden. Vielleicht ist die Zeit reif und der Moment günstig für eine Idee von sozialen Netzwerken, die klüger machen, zur Beteiligung einladen und befähigen und sich an Werten orientieren, die Demokratien schützen und stärken können.

Sozial, ökonomisch und politisch

Musk und X sind nur der nächste Schritt einer sich schon lange vollziehenden Entwicklung. Es ist nicht so, dass Jack Dorsey und sein Twitter, bevor es im Oktober 2022 an Musk verkauft wurde, ein demokratisches Vorzeigeprojekt gewesen wären. Auch er ist ein Milliardär, der Spielfelder und Regeln öffentlicher Debatten bestimmt. Nur, weil Dorsey weniger als Egomane mit fragwürdigen Werten und Handlungen bekannt ist und auch mal größere Summen für gute Zwecke spendet, ändert das nichts am zentralen Problem: Einzelne reiche Menschen (weiße Männer) können (zu sehr) bestimmen, wer und was auf ihren Plattformen eine Bühne erhält. Dabei folgen sie in der Regel einer ökonomischen bzw. kapitalistischen Logik. Wenn es dem Geschäftmodell dient, wird auch denen die Hand gereicht, die Demokratien schwächen oder sogar zerstören möchten. 

Facebook ist mit knapp 3 Milliarden Nutzer*innen die weltweit größte Plattform. Ein soziales Netzwerk, über das man anfangs Personen wiederfand, die man aus dem Blick verloren hatte und das so Menschen weltweit miteinander verband (und dadurch vieles grundlegend veränderte). Für meine Frau und mich war es vor über zehn Jahren eine einfache Möglichkeit, mit unseren Verwandten, die größtenteils in Finnland, Serbien und Nordmazedonien lebten, im Austausch zu bleiben. Es wurden schöne und schmerzhafte Momente miteinander geteilt und die räumliche Entfernung schien plötzlich überwunden. 

In den letzten Jahren wurde Facebook zunehmend zu einer Werbeplattform umfunktioniert. Zum Beispiel die chronologische Timeline mit Fotos und Updates aus dem Leben von Familienmitgliedern, Freunden und Bekannten musste früh weichen. Ersetzt wurde sie irgendwann durch eine Auswahl an Beiträgen, die laut eines Algorithmus einen interessieren könnten oder sollten. Von wenigen Personen, mit denen man vernetzt war, von Fremden und immer mehr von Produkten. Das soziale Netzwerk wandelte sich schleichend, aber stetig zu einem ökonomischen. 

Diese Ökonomisierung führte auch zur Verstärkung des Politischen. Es lässt sich darüber streiten, wie und wie stark sich der Ausgang von Wahlen oder politischen Entscheidungen von und mit sozialen Netzwerken beeinflussen lassen. Dass ein Einfluss besteht, ist unumstritten. Das Versprechen von Microtargeting war ein Schritt auf diesem Weg. Ein weiterer, dass Algorithmen bzw. Milliardäre, die diese so programmiert haben wollten, menschenfeindliche und demokratiegefährdende Inhalte breit gestreut und begünstigt haben oder um es in ökonomisch betrachtet einzuordnen: Was Klicks und Aufmerksamkeit erzeugte, ließ sich für höhere Beträge verkaufen und war profitabel.

Möchte an der Stelle erinnern, dass Dorsey den Account von Trump erst im Januar 2021 sperrte, nachdem er zum Sturm auf das Kapitol aufrief. Die vielen Jahre zuvor schuf und gab er ihm gerne eine Bühne mit weltweitem Einfluss, die zu Trumps politischem Erfolg und dem Demokratieabbau (nicht nur) in den USA beitrug, wovon Dorsey profitierte.

Einer der größten Erfolge des Neoliberalismus und Kapitalismus ist die weit verbreitete (gezielt gestreute und erfolgreich beworbene) Erzählung und das Missverständnis, die Ökonomie würde, wie Naturwissenschaften, naturgegebenen Gesetzen folgen und wäre neutral, logisch und unpolitisch. Wie es dazu kam und weshalb das falsch ist, kann man u.a. in dem Buch Die Donut-Ökonomie von Kate Raworth nachlesen. Sie erklärt auch sehr anschaulich, wie stark allein die Bilder und Ideen der Ökonomie unseren Alltag prägen, wie wir uns verstehen und handeln. 

Der Begriff User*innen/Nutzer*innen verdeutlicht dieses Bild auf individueller Ebene und welche Rolle mir zugesprochen wird. Plattformen sozialer Netzwerke sind dabei als Dienstleistungen zu verstehen, die von Kund*innen genutzt werden können. Besiegelt durch allgemeine Geschäftsbeziehungen. Dass sie schon immer auch zur Gestaltung des zivilgesellschaftlichen und politischen Zusammenlebens genutzt wurden, liegt weniger an der Einladung oder Idee der Tech-Milliardäre, sondern mehr am natürlichen Interesse und Antrieb von Menschen, sich mehr als Bürger*innen statt Kund*innen zu verstehen. Was aber auch nur geduldet wird, solange es dem Geschäftsmodell dient und nicht schadet. 

Vielleicht lässt sich das Zusammenspiel zwischen der sozialen, ökonomischen und politischen Funktion, Nutzung und Wirkung auf folgende Weise zusammenfassen:

Sozial steht hier für das Interesse von Menschen, sich über Dinge auszutauschen, die sie bestimmen. Ökonomisch steht für das wirtschaftliche bzw. kapitalistische Interesse von Zuckerberg, Musk & Co, mit ihren Plattformen möglichst viel Geld zu verdienen. Der rote Regler soll die Möglichkeit darstellen, dass sich der Schwerpunkt eines sozialen Netzwerkes zwischen sozial und ökonomisch verschieben kann und lässt, aber dabei stets politisch bleibt. Mit diesem Bild könnte man beschreiben, dass der Regler bei Facebook in den ersten Jahren stark auf der sozialen Seite lag und danach immer stärker zur ökonomischen verschoben wurde. (Was je nach Land und Kontinent sicher unterschiedlich war und wahrgenommen wurde.) 

Je mehr Menschen einer Plattform beitreten, umso sozial, ökonomisch und politisch relevanter wird sie. Was das Werben um neue, mehr Mitglieder ökonomisch erklärt, sozial begründet und politisch interessant macht. Neben der Masse kann auch das Wer eine bedeutende Rolle spielen. Wer sich bei einer Plattform anmeldet und sich aktiv beteiligt, trägt zu ihrer Relevanz bei. Je bekannter und beliebter eine Person, umso stärker ihre Wirkung und Verantwortung.

Architektur und Kultur sozialer Netzwerke 

Bei Facebook postest du, dass und wo du Pizza essen gehst, bei Instagram teilst du ein Foto der Pizza und bei Twitter schreibst du darüber. Das war lange Zeit eine grobe, aber auch treffende Zusammenfassung und Unterscheidung ihrer Funktionen und Nutzungen. Während die Suche nach Ideen und Konzepten, mit sozialen Netzwerken Geld zu verdienen, immer stärker in den Vordergrund rückte, schwanden damit auch vermehrt die einstigen, teilweise deutlichen Unterschiede sozialer Netzwerke. (Ein bekanntes Kapitel dieser Angleichungen war die Phase, in der scheinbar jedes soziale Netzwerk die Story-Funktion haben musste.)

Die Begrenzung auf 140 Zeichen hat Twitter lange Zeit ausgezeichnet. Es hat bestimmte Menschen angesprochen, zusammengeführt und eine besondere, vielschichtige Kultur entstehen und sich entwickeln lassen. So konnten sich beispielsweise wenig privilegierte Personen/-gruppen, die über keinen der exklusiven Zugänge zu TV- und Printmedien verfügten, selbst ihre Bühnen schaffen, wichtige Themen setzen und vor einer breiten Öffentlichkeit strukturelle Probleme ansprechen und sichtbar machen. Es konnten so zahlreiche gesellschaftliche Auseinandersetzungen eingeleitet und politischer Druck aufgebaut werden. (Das Buch Twitter and Tear Gas von Zeynep Tüfekçi eröffnet hier u.a. einige Perspektiven, welche enorme Funktion, Nutzung und Wirkung Twitter hatte.)  

140 Zeichen konnten zwar einerseits als Einladung zur Reduktion auf das Wesentliche verstanden werden, mit der Aufgabe, Dinge auf den Punkt zu bringen. Andererseits begünstigte die Zeichenbegrenzung auch eine Verkürzung, Vereinfachung von komplexen Sachverhalten und populistische Aussagen. So konnten ebenfalls Personen (ohne eine fachlich relevante Expertise) zu Twitter-Berühmtheiten aufsteigen, nur weil sie das Empörungsspiel perfekt beherrschten. Leider war hier die populäre Einordnung „berühmt bei Twitter ist wie reich bei Monopoly“ auch oft eine Verkürzung. Die Transformation der Öffentlichkeit und damit auch die Medienlandschaft hat eine Aufmerksamkeitsökonomie entstehen lassen, die mehr dazu beiträgt, Probleme zu verstärken als sie zu lösen.

Das skizzierte 140 Zeichen-Beispiel zeigt, wie die Affordanz (wozu etwas einlädt; wie z.B. ein Stuhl zum Sitzen einlädt), technische Architektur, neben der bereits erklärten Unterscheidung und Verschiebung zwischen sozial und ökonomisch, die Kultur eines sozialen Netzwerks prägen kann und lässt die komplexen Zusammenhänge zwischen Technik und Kultur erahnen. Ob und wie eine Moderation stattfindet, ist hier ein weiteres, wichtiges und beeinflussendes Element. Soziale Netzwerke sind nicht nur technische Möglichkeiten eines Accounts, sondern (unterschiedlich stark) Teil der eigenen Identität, persönlichen Geschichte. Auch meiner. Was u.a. die Wut, Ohnmacht, Trauer oder Verdrängung zahlreicher Menschen über die Zerstörung von Twitter durch Musk erklärt.

Welche sozialen Netzwerke braucht es?

Lange Zeit galt, dass man mit Twitter viel erreichen kann, nur kein Geld verdienen. Das wollte Musk (aus welchen Gründen auch immer) ändern und hat wie Zuckerberg den Regler von sozial zu ökonomisch verschoben. Was bei Facebook aber ein schleichender Prozess über viele Jahre war, hat Musk in kurzer Zeit vollzogen. Neben dem hohen Tempo und der fragwürdigen Twitter Blue-Idee spielten aber auch die Kultur und Community (wer, wie und worüber sich ausgetauscht wurde) beim Scheitern eine zentrale Rolle. Das “Ende von Twitter” kann als ein Beispiel dienen, wohin die Reise zunehmender Ökonomisierung sozialer Netzwerke führen kann.

Vielleicht ist die Zeit aber auch reif und günstig für andere, allgemein hilfreichere gesellschaftliche Entwicklungen. Die Klimakrise, Demokratiekrisen und vielen anderen komplexen gesellschaftlichen Herausforderungen und Probleme zeigen, dass es soziale Netzwerke braucht, die das bestärken, was ohnehin immer schon da war: ein soziales Netzwerk der Bürger*innen. In Krisen wurden immer wieder bei Facebook-Gruppen eröffnet und bei Twitter Hashtags ins Leben gerufen, die Menschen in unterschiedlicher Weise halfen und solidarisches Handeln organisierten. Hier waren es Bürger*innen, die sozialen Interessen folgten und keine Kund*innen, die eine kapitalistische Logik erfüllten.

Es bräuchte somit soziale Netzwerke, die Menschen einladen und befähigen Bürger*innen zu sein und den Regler zu sozial und selbstbestimmt schieben. Wo ihre Handlung nicht darauf beschränkt wird, aus fertigen Menüs auszuwählen, sondern sie selbst Rezepte und ihre Zubereitung lernen und bestimmen können. Es bräuchte auch einen größtmöglichen Schutz, nicht vom nächsten Musk aufgekauft zu werden und zu verhindern, dass Menschen wieder in die Kund*innenrolle gedrängt bzw. darauf reduziert werden, fremdgesteuert von Algorithmen. (Was sicher komplexer ist als es auf den ersten Blick scheint.)

Wie wäre es mit einem sozialen Netzwerk, das ein digitaler Begegnungsraum und Dritter Ort ohne Konsumzwang, wie Stadtbibliotheken oder Museen, sein könnte?  Wie wäre es mit einem sozialen Netzwerk, bei dem die Werte, an denen sich mögliche, neue Funktionen, Nutzungen und Wirkungen orientieren, gemeinsam ausgehandelt werden und Demokratien stärkend sein können? Seit dem Niedergang Twitters setzen hier immer mehr Menschen auf Mastodon, das keine geschlossene Plattform wie Facebook oder X bietet, sondern eine dezentrale und offene Lösung darstellt, die einer anderen Logik folgt. Was das genau (nicht nur technisch) bedeutet, hat freundlicherweise Steffen Voß hier aufgeschrieben. 

Auch Bluesky ist in den letzten Wochen im deutschsprachigen Raum gewachsen und wirbt auf seiner Website mit Dezentralität und Offenheit. Aktuell ist das soziale Netzwerk aber das Gegenteil davon bzw. fällt durch erzeugte Exklusivität auf, weil man ihm nur durch einen Invite-Code beitreten kann, den ausschließlich Personen erhalten und vergeben können, die bereits dort sind. Das und die Tatsache, dass Jack Dorsey (der auf jeden Fall auch politisch kritisch betrachtet werden sollte) bei Bluesky keinen geringen Einfluss hat, sollte bei jeder Person zumindest eine gesunde Skepsis auslösen.

Wer bereits viel Zeit und Kraft in ein soziales Netzwerk investiert hat, stellt sich umso mehr die Frage, ob und wo ein weiteres Mal investiert werden möchte, kann und soll. Folgende und viele weitere Fragen beschäftigten mich die letzten Monate immer stärker bei X:

Was muss (noch) geschehen, um ein soziales Netzwerk zu verlassen? Genügt es z.B., wenn Accounts zugelassen und begünstigt werden, die menschen- und demokratiefeindliche Aussagen verbreiten, Hass schüren und Personen beleidigen oder sogar bedrohen? Oder ist hier die Menge und Qualität entscheidend? Wo endet die persönliche Grenze und Betroffenheit und beginnt die gesellschaftliche Verantwortung? Wie entwickelt sich das Verhältnis zwischen Information und Desinformation?

Manche dieser Fragen stellte ich auch bei Twitter. Nicht selten lautete die Antwort darauf, dass die beschriebenen Dinge einen selbst nicht betreffen würden oder man das nie erlebt habe und es somit unbekannte Phänomen seien, die es vielleicht auch gar nicht gäbe. Aussagen, die allen bekannt vorkommen, die sich mit Rassismus, Sexismus oder anderen Ismen auseinandersetzen und die Teil struktureller Probleme sind: Privilegierte kennen und sehen ihre Privilegien nicht. X ist nicht die Ursache von Rassismus, Sexismus und den anderen Ismen, aber die Plattform begünstigt und verstärkt sie.

Es gibt keine einfache technische Lösung für komplexe gesellschaftliche Probleme. Weshalb eine andere technische Architektur, Affordanz und Moderation nicht automatisch zu weniger Ismen führen oder ihnen von sich aus entgegenwirken. Weshalb Mastodon und das Fediverse mit seinem dezentralen und offenen Ansatz eine Möglichkeit darstellen, es besser machen zu können, ohne zwangsläufig besser zu sein. Mehr Diversität und Beteiligung können ermöglicht und gefördert werden. Können. Zumindest begünstigen die fehlenden Algorithmen und die Abwesenheit ökonomischer, kapitalistischer Logik, dass die Rolle der Bürger*innen und nicht der Kund*innen gestärkt wird. 

„Was tun wir uns selbst an, wenn wir uns 3.000 Mal am Tag sagen, dass wir Konsument*innen sind? […] Wie sähe es aus, wenn wir die gleiche Energie und Inspiration, die wir derzeit darauf verwenden, uns zu sagen, Konsument*innen zu sein, in den Aufbau unserer Handlungsfähigkeit als Bürger*innen stecken?“ 

Jon Alexander, Citizens – Why the key to fixing everything is all of us

Mastodon ist seit einigen Monaten mein neuer Erstwohnsitz im Netz. Seitdem fühle ich mich weniger von Algorithmen und Empörungsspiralen getrieben. Zum Beispiel nicht mehr zu sehen, ob und wie jemand auf einen Beitrag reagiert, den eine andere Person gepostet und ich geteilt habe (retweeten/boostern), hat mich anfangs irritiert, weil ich das nicht gewohnt war. Meine Wahrnehmung (von mir und anderen) und mein Verhalten haben sich dadurch verändert. Auch viele angenehme, anregende Begegnungen und Gespräche haben diese Zeit geprägt. Und doch fehlen mir (im Vergleich zu Twitter, nicht X) noch die vielen diversen und internationalen Expertisen und Perspektiven von Künstler*innen und Wissenschaftler*innen. Nicht alles ist perfekt bei Mastodon. Aber der Ansatz, das Potenzial und die aktuellen Entwicklungen lassen mich dort meine Zeit und Kraft investieren.  

(Witzigerweise gab es genau zu dem Zeitpunkt, an dem ich bei Twitter ankündigte, mich dort bald endgültig zu verabschieden und zukünftig bei Mastodon zu finden zu sein, Probleme bei det.social, der Instanz, auf der ich meinen Account habe. Ich konnte mehrere Tage von keiner Person gelesen werden, die nicht auch auf meiner Instanz war. Die Kommunikation zu diesem Problem wirkte nicht so, wie ich es erwartet hatte, weil die Instanz vom ZDF (Magazin Royale) ist und ich von einem professionellen Betrieb ausging. Da aber in den letzten Monaten scheinbar immer mehr Ressourcen und Medienhäuser sich in Richtung Mastodon bewegen, hoffe ich auf bessere Rahmenbedingungen.)

Manche behaupten, dass die Zeit sozialer Netzwerke und wie sie lange funktionierten ohnehin vorbei sei. Vielleicht ist da was dran. Das würde trotzdem nicht der Idee widersprechen, dass die Zeit reif und günstig für neue, bessere gesellschaftliche Lösungen sei. Dieser Beitrag ist eine Einladung darüber nachzudenken und vor allem mitzumachen, zu experimentieren, sich auf Neues einzulassen, sich von der Kund*innenrolle zu befreien und vielleicht ein soziales Netzwerke zu erreichen, in dem wir uns als Bürger*innen (neu) entdecken und begegnen.  

Bildschirmfoto 2018-11-03 um 14.31.05„Soziale Netzwerke eignen sich nicht für Diskussionen.“ Diese Meinung ist weit verbreitet und resultiert aus den Erfahrungen, die jeder selbst schon mal bei Debatten in Social Media gesammelt hat. Begründet wird das oft mit dem Fehlen von Mimik, Gestik oder dem Ton des Gegenübers und der Reduzierung der Kommunikation auf die Schrift. Oder einer enthemmenden Anonymität und veränderten Öffentlichkeit. Die Bewertung, soziale Netzwerke würden sich für Diskussionen nicht eignen, lädt aber auch ein, sich dem Diskurs zu entziehen oder sich von der Verantwortung (bezüglich einer Beteiligung oder dem Verlauf einer Debatte) freizusprechen und unterliegt meiner Meinung nach einem Denkfehler: Es wird zwar wahrgenommen, dass die Möglichkeiten der Kommunikation sich wandeln, es wird aber (gedanklich) daran festgehalten, dass die Kommunikation selbst dabei unverändert bleiben soll.

Es wird mehr und anders kommuniziert, weshalb der Kommunikation im kulturellen Wandel eine entscheidende Rolle spielt. Wie eine adäquate Anrede oder Grußformel am Ende eines Briefes auszusehen hat, habe ich vor ca. 30 Jahren in der Schule gelernt. Weder eine solche klare und einheitliche Etikette noch das gemeinsame Erlernen existieren heute für die Kommunikation in Social Media, weil es u.a. in Schulen nicht stattfindet oder jedes soziale Netzwerk eigenen Regeln unterliegt. Beispielsweise duzen sich bei Twitter die meisten Nutzerinnen und Nutzern untereinander, unabhängig von Bekanntheit, Amt oder Titel. (Was mir das Netzwerk besonders sympathisch macht.) Das Sie wird (zumindest in meinem Umfeld) eher bei einem Streit mit Unbekannten ausgepackt. Eine sich immer schneller ändernde Technik, Wirkung und Anwendung erschwert, dass ein allgemeiner Konsens gefunden und etabliert wird. Auch der Einfluss der Plattformbetreiber selbst, ist in diesem Kontext nicht zu unterschätzen. Es sind in den letzten Jahren schließlich ausreichend Fälle öffentlich und kontrovers diskutiert worden, die belegt haben, dass nicht alle die Auffassung von Facebook teilen, was als gesellschaftlich akzeptabel oder nicht bewertet werden soll.

Wenn Diskussionen über soziale Netzwerke nicht funktionieren, kann das auch bedeuten, dass bereits vorher bestehende kommunikative Defizite vorhanden waren und nun nur sichtbar werden oder dass schlicht die Vorstellungen, wie eine erfolgreiche Kommunikation zu verlaufen hat, voneinander abweichen. Vielleicht trägt auch die überholte Auffassung, Medien seien nur ein Transportmittel, zum Missverständnis sozialer Netzwerke bei. Wer über Social Media diskutieren möchte, wird mit der reinen Übertragung bisheriger Verhaltensmuster scheitern. Neues Wissen und weitere Kompetenzen sind gefragt. Es handelt sich hierbei auch um keine (rein) schulische, sondern eine gesellschaftliche Herausforderung. Ein gemeinsamer Prozess mit und über Social Media. Immer wieder die eigene Kommunikation selbst und mit Freunden oder Bekannten zu reflektieren, hilft (allen) dabei. (Mich persönlich interessieren zunehmend psychologische Aspekte wie FramingProjektion oder Reaktanz.) Das wird unbequem und langer dauern, aber ist Teil des der Digitalen Transformation. 

Den hier veröffentlichten Beitrag habe ich für die Baden-Württemberg Stiftung im Rahmen ihrer Kampagne #BesserDatenSchützen verfasst.

Wir befinden uns in einer digitalen Transformation, in der die gesellschaftliche Ordnung grundlegend verändert wird. Niemand steht so prominent und umstritten in der breiten Öffentlichkeit wie Facebook für zwei Themenfelder, die in diesem Prozess eine wesentliche Rolle spielen: Social Media und Daten.

Ein Bildungsziel muss es sein, bei jungen Menschen zumindest ein Grundverständnis über Aufbau, Wirkung und Zusammenhänge zu erreichen, damit sie in einer digital vernetzten Welt mündig wirken und Gesellschaft mitgestalten können. Wie das am besten gelingen kann, ist eine der großen Fragen unserer Zeit.

Bisher spielen beide Themen in deutschen Schulen, an denen Smartphone-Verbote üblich sind, kaum bis gar keine Rolle. Wenn sie aber aufgegriffen werden, geht es meist darum, über mögliche Gefahren aufzuklären. Cyber-Mobbing, Cyber-Grooming (das gezielte Ansprechen von Minderjährigen durch Erwachsene, um einen sexuellen Kontakt herzustellen) und Datenschutz bilden hier ein häufig überstrapaziertes Trio. Definitiv drei wichtige Aspekte. Die Grundidee von Social Media, nämlich miteinander zu kommunizieren, wird in ihrer Komplexität und ihrem Umfang dadurch allein leider nicht annähernd erfasst. Dass Instagram & Co unter und nicht auf den Schultischen stattfinden, liegt wahrscheinlich auch daran, dass Lehrende sich gerne zum Personenkreis zählen, der denkt, auf eine Beteiligung in sozialen Netzwerken verzichten zu können.

internet-3113279_1920Sich Facebook & Co zu entziehen oder seinen Account zu deaktivieren, klingt simpel, stellt aber ein Privileg dar, das sich nicht jede Person leisten kann. Als Beleg dafür reicht ein Blick in die politische oder wirtschaftliche Landschaft oder Wahlverläufe. Übrig bleiben nicht wenige Offliner, deren Wissen über soziale Netzwerke sich auf Print- und TV-Beiträge beschränkt und die keinen Sinn darin sehen, ihre kostbare Zeit für Unnützes zu verschwenden. Dabei sind die großen Social Media-Plattformen bereits über zehn Jahre alt und schon lange mehr als nur eine Möglichkeit, Freunde und Bekannte mit unzähligen Fotoserien am Elternstolz teilhaben zu lassen oder die Welt zu informieren, welche Pizza man bei welchem Italiener gerade gegessen hat. Das gesamtgesellschaftliche Leben hat in Social Media mittlerweile ein digitales Zuhause und bildet auch zunehmend regionale Strukturen ab.

Social Media als Chance

Eigentlich stellen soziale Netzwerke eine Chance für Schulen dar, sich zu öffnen, vom Austausch zu profitieren und noch stärker in die Gesellschaft zu wirken. Wie das funktionieren kann, zeigt seit Jahren eine wachsende Anzahl an Lehrenden, die sich mithilfe von Twitter, Facebook, Blogs oder sogar Instagram gemeinsam Gedanken machen, was zeitgemäße Bildung bedeutet und wie sie erreicht werden könnte. Dabei werden in Facebook-Gruppen oder unter Hashtags wie #zeitgemäßeBildung bei Twitter wilde Ideen bis hin zu konkreten Projekt- und Unterrichtskonzepten ausgetauscht und kollaborativ entwickelt. Man diskutiert kontrovers und unterstützt sich gegenseitig, auch um etwas Bewegung in den trägen Tanker Schule zu bringen. Persönliche Lernnetzwerke und unterschiedliche Expertisen werden aufgebaut und gepflegt. Es finden echte und nachhaltige Lernprozesse statt, wovon sich das System Schule gerne ein paar Scheiben abschneiden könnte. Beispielsweise erfolgt dieses Lernen der Lehrenden mithilfe sozialer Netzwerke anhand echter, nicht schulisch geleiteter Fragen. Wo, mit wem, wann und wie lange gelernt wird, wird frei gewählt und bestimmt. Außerdem findet der Austausch über Fachgrenzen hinweg statt, was erforderlich ist, wenn man den Transformationsprozess und Social Media verstehen möchte.

Wer im Unterricht zum Beispiel Framing bei rechtspopulistischen Auftritten in sozialen Netzwerken betrachtet, benötigt für das Verständnis psychologische, historische, sprachliche, politische, informationstechnische und ethische Aspekte. Der wohl wichtigste bei allen genannten Punkten ist das gemeinsame Erarbeiten. In einer immer komplexer werdenden Welt braucht es unterschiedliche Expertisen und Perspektiven. Deshalb empfiehlt es sich, regelmäßig mit Klassen darüber zu sprechen, was sie in welcher Plattform aktuell überhaupt machen, wie und weshalb dort Meinungen zu Themen gebildet werden. Auch weil die Veränderungen sozialer Netzwerke einer deutlich anderen Dynamik unterliegen als das klassische Schulbuch.

Auch Lehrerinnen und Lehrer müssen lernen

Ein erfolgreicher Dialog hängt von der Bereitschaft der Lehrpersonen ab, sich wertfrei auf unbekanntes Terrain zu begeben und das Wissen und den Blickwinkel der Schülerschaft einzubinden und wertzuschätzen. Das mag einfach klingen, ist es aber nicht. Die drei größten Hürden stellen erfahrungsgemäß Wertfreiheit, Angst vor Kontrollverlust und der Rollenwechsel vom Lehrenden zum Lernenden dar.

Um ein letztes Potenzial sozialer Netzwerke zu nennen, möchte ich den Blick in die USA richten. Im Februar diesen Jahres hat es nach einem Amoklauf an einer High School in Florida eine Gruppe von Überlebenden über YouTube, Twitter und Instagram geschafft, ihrem Anliegen weltweit Gehör zu verschaffen. Einen Monat später erreichten die Jugendlichen so eine Verschärfung des Waffenrechts in ihrem Bundesstaat und mit dem „March for Our Lives“ die größten Anti-Waffen-Proteste in den USA seit Jahrzehnten. Das zeigt: Social Media bieten Möglichkeiten der Demokratisierung und Partizipation aller, indem bestehende Hierarchien überwunden werden können. Soziale Netzwerke sind weder gut noch schlecht, sondern das Produkt unseres Wirkens.

Datenbewusstsein – ein mögliches Ziel

Auch beim Thema Daten gilt der bereits empfohlene Ansatz: Lehrkräfte sollten gemeinsam mit ihren Klassen die Herausforderungen des gesellschaftlichen Wandels im digitalen Zeitalter analysieren und unterschiedliche Expertisen und Perspektiven berücksichtigen – und diskutieren, wenn man nicht vorformulierte Antworten, sondern Mündigkeit anstrebt. Schülerinnen und Schüler brauchen keine Datenschutz-Debatten, in denen das Fehlen von Datenbewusstsein bemängelt wird und Erwachsene ihre moralischen Appelle und Überlegenheit präsentieren, die in der Regel verhallen. Um ein Datenbewusstsein entwickeln zu können, benötigen sie Transparenz und Wissen, welche Daten wann generiert werden, wer einen Zugriff darauf hat oder welche Chancen und Risiken sie für den Einzelnen oder die Gesellschaft bieten und wer das wo beschließt.

Man sollte Klassen nicht die eigene Auffassung von Privatsphäre und Datenschutz aufzwängen. Die Grenze zwischen Lehren und Belehren scheint hier fließend. Ich muss als Lehrer nicht erreichen, dass alle DuckDuckGo als Standard-Suchmaschine auf ihren Smartphones einrichten – aber dass sie zumindest wissen, dass es sie gibt und was sie im Vergleich zu Google und Co. leisten kann.

Rahmen und Rolle vom System Schule müssen neu gedacht werden, wenn man im Transformationsprozess nicht nur reagieren, sondern gestalten möchte. Und weil es sich dabei um eine gesellschaftliche Herausforderung handelt, braucht es neben der Schule weiteres Engagement für Räume, in denen jungen Menschen partizipieren können und gehört werden. Vom 08. bis zum 10. Juni fand in Berlin die TINCON statt, eine Gesellschaftskonferenz von Jugendlichen für Jugendliche, die eine gute Gelegenheit für Impulse, Austausch und Vernetzung bietet. Unsere Zukunft hängt davon ab, wie wir jungen Leuten von heute begegnen. Fangen wir an, zu begreifen und investieren wir in unsere Zukunft.