Immer mehr Menschen sagen, dass die unglaublich vielen, unterschiedlichen Kundgebungen, die bundesweit in kleinen und großen Städten oder Gemeinden seit Wochen stattfinden, nur ein Auftakt sein können, für eine Arbeit, die folgen muss, um unsere Demokratie zu stärken und zu schützen. Deshalb erhalten am 24. Februar im Europa-Park Stadion (bzw. der Lounge) Demokrat*innen aus Freiburg und der Region die Möglichkeit, diese gesamtgesellschaftliche Aufgabe bei einem DemokratieCamp gemeinsam anzugehen. In diesem Beitrag wird erklärt, welche Ideen dahinter stecken, wie man sich auf den Tag vorbereiten und wie man vor Ort helfen kann. (Wer sich noch nicht angemeldet hat, kann das hier nachholen. Es gibt insgesamt 300 Tickets.)
Was kann ein DemokratieCamp leisten?
Die unglaublich vielen Menschen, die zu den Kundgebungen auf die Straße gegangen sind und gehen, haben von sich aus beschlossen, jetzt einen aktiven Beitrag leisten zu müssen. Sie haben als Demokrat*innen ihre Verantwortung erkannt und sie übernommen. Das DemokratieCamp setzt genau da an und ermöglicht, diese Aktivierung und Energie in den Alltag zu überführen und dort zu verstetigen. Es geht somit darum, möglichst viele Demokrat*innen in ihrer zivilgesellschaftlichen Rolle und Verantwortung zu be|stärken und sie an ihre Fähigkeit zu erinnern, ihr Lebensumfeld mehr gestalten zu können, als es manchen auf den ersten Blick erscheint.
Eine zentrale Botschaft des DemokratieCamps lautet: dass jede Person einen wichtigen Beitrag leisten kann, schon leistet und auch weiterhin leisten muss, wenn es darum geht, unsere Demokratie kurz- und langfristig zu stärken und zu schützen. Das DemokratieCamp bietet einen Raum, um herauszufinden, wie das am besten gelingen kann. Es können nur Lösungen eine Wirkung entfalten, die von einem breiten Teil der Gesellschaft entwickelt und getragen werden. Deshalb ist es notwendig, dass diverse Menschen mit verschiedenem Wissen und unterschiedlichen Sichtweisen zusammenkommen, um an einer gemeinsamen Lösung zu arbeiten.
Zwar hat die CORRECTIV-Recherche rund um die Deportationspläne Rassismus in den Mittelpunkt gerückt. Wer aber die weltweit erstarkenden faschistischen Kräfte und Ideen betrachtet, stellt fest, dass es um die Einschränkung von Freiheitsrechten und Zunahme von Gewalt gegenüber vielen, unterschiedlichen Gruppen geht: Frauen, Arme, Behinderte, junge und alte Menschen, Homosexuelle, trans Personen und zahlreiche weitere Personenkreise. Wer somit eine Demokratie ernsthaft schützen möchte, muss die Freiheitsrechte aller schützen. Eine starke Demokratie arbeitet auch daran, die Freiheitsrechte aller noch mehr zu stärken. Was zu möglichen Fragen führt, die beim DemokratieCamp vertieft werden könnten.
Raum für Fragen und Ideen
Was stärkt und schützt eine Demokratie? Welches Wissen gibt es dazu schon? Welche Vereine, Initiativen, Netzwerke oder sonstige Organisationen und Personen verfügen vor Ort (in der Kommune, Region) über ein solches Wissen? Was kann, soll und muss kurz- und langfristig getan werden? Wo gibt es öffentliche Räume und Termine, in denen dieser Austausch, rund um Demokratie, geführt und fortgesetzt werden kann? Was kann ich selbst dazu beitragen, in meinem privaten und beruflichen Umfeld? Das sind nur einige Fragen, die aufzeigen sollen, was am DemokratieCamp diskutiert werden könnte. Sie sollen auch anregen, sich im Vorfeld Gedanken zu machen, welche eigenen Fragen man sich stellt und was einem persönlich wichtig erscheint – was einen bewegt.
Konkret kann das bedeuten, dass man überlegt und diskutiert, welche demokratische Kultur im eigenen Unternehmen, Verein, der Partei, Schule, Hochschule oder sonstigen Organisationen vorliegt oder gemeinsam nach erfolgreichen Ansätzen und Maßnahmen sucht, die sich an anderen Orten bewährt haben. Das können beispielsweise Personen und Anlaufstellen sein, die sich um Betroffene von Diskriminierungen kümmern oder Workshops, die durchgeführt werden, um sich gemeinsam weiterzubilden und zu sensibilisieren. Es kann auch geprüft werden, wie bisher Entscheidungen getroffen und wie diese demokratischer gestaltet werden könnten. Zum Beispiel durch mehr Transparenz und Beteiligung. Oder eine Gruppe plant auf dem DemokratieCamp die nächste Möglichkeit, zu der alle Demokrat*innen aus Freiburg und der Region zueinanderfinden können.
Blaupause
Das DemokratieCamp soll kommunale Netzwerke rund um das Thema Demokratie stärken und schützen bilden und bestehende Arbeit dazu sichtbar machen und fördern. Weil in vielen anderen Städten und Gemeinden ebenfalls die Frage im Raum steht, wie es nach den Demos weitergehen kann, besteht auch die Hoffnung, dass dieses Format für andere Orte als Blaupause dient. Mit den bundesweiten Kundgebungen und Aktionen der letzten Wochen liegen ein demokratisches Potenzial und eine gesellschaftliche Chance vor. Diese gilt es zu nutzen. Das DemokratieCamp stellt eine Möglichkeit dar: Ein Angebot von der Zivilgesellschaft für die Zivilgesellschaft.
Wie kann ich mich vorbereiten?
Die beste Vorbereitung besteht darin, für sich zu klären, weshalb man sich zum DemokratieCamp angemeldet hat: welche Fragen einen beschäftigen, Probleme einen belasten oder Ideen man mit anderen teilen möchte. Das Besondere an dem Tag ist der Zugang zu vielfältigen Expertisen und unzähligen Perspektiven, vereint an einem Ort. Hier lassen sich Verbündete finden, mit denen man gemeinsam ein Projekt angehen kann oder Expert*innen treffen, mit denen passgenaue Lösungen entwickelt werden können.
Wer schon eine konkrete Idee hat, kann diese gerne als kurze Präsentation (eher wenige Folien, Slides, weil der Austausch im Mittelpunkt steht) vorbereiten. Es werden einige Bildschirme (wahrscheinlich mit AppleTV und/oder einem HDMI-Anschluss) zur Verfügung stehen. Wer einen Workshop anbieten möchte, kann gerne sein benötigtes Material dafür mitbringen. Das DemokratieCamp bietet allem einen Raum, was die Demokratie stärkt und schützt. (Hier kann der zeitliche Ablauf nachgelesen werden.)
Wie kann ich helfen?
Informationen für alle
Am besten wäre es, wenn zu jedem Austausch ein Protokoll zum Nachlesen vorliegen würde. So könnten sich dann alle, die nicht dabei sein konnten, ebenfalls informieren und eventuell auch an Projekten beteiligen, die an dem Tag entstanden sind und fortgeführt werden. Es wird dafür beim DemokratieCamp digitale Protokollvorlagen geben. Um diese zu bearbeiten, wird man ein Tablet oder einen Laptop (zur Not auch ein Smartphone) benötigen. Wer beim DemokratieCamp einen solidarischen Beitrag leisten möchte, kann ein mobiles Endgerät mitbringen und in den Austausch-Runden mitschreiben. (Vor Ort wird es nochmal ausführliche Informationen dazu geben.) Im besten Fall gibt es am Ende des Tages eine für alle digital zugängliche Sammlung von Ideen und Ansätzen, wie unsere Demokratie gestärkt und geschützt werden kann. Der Hashtag #DemokratieVereint soll diese im Netz auffindbar machen.
Respektvolles miteinander und Solidarität
Der Konsens vor Ort sollte sein, dass unabhängig der Ansichten alle respektvoll miteinander umgehen und sich gegenseitig helfen und unterstützen, wo das gewünscht und möglich sein sollte. Zu einer starken Demokratie gehört, dass miteinander gestritten und stets gegenseitiger Respekt gewahrt wird. Dabei sollte es stets um die Sache gehen: miteinander statt gegeneinander streiten. Bestenfalls lautet das Ziel, an gemeinsamen Lösungen zu arbeiten. Hierzu kann jede Person einen wertvollen Beitrag leisten.
Demokratie unter Druck lautete der Titel einer Tagung der Landeszentrale für politische Bildung, bei der letzten Dienstag und Mittwoch die Herausforderungen der politischen Bildung bzw. Demokratiebildung für Gesellschaft und Schule aus “diversen“ Perspektiven betrachtet und im Anschluss diskutiert werden sollten. Prof. Dr. Wolfgang Sander (von der Justus-Liebig-Universität Gießen) erläuterte dabei in seinem Vortrag ausführlich, welche Gefahren für eine Demokratie von einer aktivistischen “Wokeness-Bewegung“ ausgehen würden, die lächerliche Diversitätsforderungen stelle, Student:innen zum Gendern zwingen möchte, einen Identitätskampf führe, Sprachverbote verhänge und Cancel Culture betreibe. Die Ausführungen von Sander stießen bei einigen Anwesenden auf Resonanz, sie hielten flammende Reden, weshalb sie nicht mehr das Z- oder N-Wort sagen dürfen (wobei sie es ausgesprochen haben).
Direkt nach seinem Vortrag hielt ich eine Gegenrede. Manche Lehrkräfte schlossen sich meiner Kritik an. Später hielten meine Kollegin und ich unseren Impulsvortrag, den wir in der Zwischenzeit um ein paar Folien verändert hatten, um einige Aussagen von Herrn Sander besser einordnen zu können. Um besser zu verstehen, was vorgefallen war, tauschte ich mich in den letzten Tagen mit einigen Personen zum Geschehen aus. Ein Fazit dieser Gespräche war, dass der Verlauf der Tagung widerspiegelt, wie viele Debatten rund um Demokratie/-bildung geführt werden, unter welchen Rahmenbedingungen das stattfindet und welche Hürden es zu überwinden gilt.
Weil ich denke, dass das häufiger, ehrlicher und öffentlicher diskutiert werden sollte, fasse ich hier einige wesentliche Gedanken und Fragen zusammen. Dieser Beitrag ist keine Replik auf den Vortrag von Wolfgang Sander. Es geht im Prinzip nicht einmal um ihn oder diese konkrete Tagung. Beides steht nur stellvertretend für Probleme und Konflikte, die vielerorts existieren und stattfinden.
Demokratie unter Druck?
Wer diskutieren möchte, ob sich eine Demokratie in einer Krise befindet, muss nicht nur zuerst definieren, wann von einer Krise gesprochen wird, sondern auch klären, was unter Demokratie zu verstehen ist. Eine zentrale Frage dazu lautet: Wer bestimmt, wann eine Krise vorliegt und was demokratisch ist?? (Wie ein Ergebnis auf diese Frage aussehen kann, zeigt diese Visualisierung zur Wahl in Berlin.) Bei einer Tagung kann es aufschlussreich sein, sich die Redezeiten der Beiträger:innen anzusehen.
Meine Kollegin und ich erhielten am Nachmittag 20 Minuten für einen kurzen Impulsvortrag, um unsere Expertise und Perspektive aus der Praxis zur Demokratiebildung an Schulen vorzustellen. Auf einer Folie bildeten wir Namen, Foto und jeweilige Redezeiten der Referent(:inn)en ab. (Alles Infos, die wir dem Flyer zur Veranstaltung entnahmen.) Manchmal kann eine Kombination aus Bild und Text eine besondere Wirkung entfalten und zum Reflektieren anregen.
Was von uns in der Planung als freundlicher (und humorvoll verpackter) Hinweis (dass mehr Personen mit dem Vornamen Wolfgang als Frauen bei der Tagung vortragen) und Einladung an alle gedacht war, auch das eigene Denken und Handeln stets kritisch zu hinterfragen, sollte die Fortführung einer Auseinandersetzung werden, die zuvor durch den Vortrag von Sander ausgelöst wurde.
Wenn Wokeness und nicht Rassismus das Problem ist
Sander erhielt eine gute Stunde Zeit, um seine Gedanken auszubreiten, vor welchen Herausforderungen Gesellschaft und Schulen im Kontext der politischen Bildung stehen. Nach einer kurzen Einführung zum Druck auf die Demokratie durch Extremismus, widmete er die meiste Zeit seiner Ausführungen der aktivistischen ‚Wokeness‘-Bewegung. Es würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, alles aufzuführen und auf jeden Aspekt einzugehen. Zwei Punkte, die genau so auf einer seiner Präsentationsfolien standen, möchte ich aber exemplarisch aufführen:
Behauptung, Diskriminierungen seien (intersektional) miteinander verknüpft und bildeten ein apersonales Gewebe von Machtstrukturen, das sich über Sprache (‚Diskurse‘) und daraus entstehende Normalitätsvorstellungen vermittle und absichere. Beispiel: Rassismus sei eine machtförmige Struktur, ein „weißes Dominanzsystem“, „sodass die Imagination von rassismusfreien Räumen nicht möglich ist.“ (Karim Fereidooni)
Allein anhand der einfachen oder auch halben Anführungszeichen (‚…‘), die genutzt werden, um eine wissenschaftlich unübliche Bezeichnung (u.a. Umgangssprache) darzustellen, kann man erahnen, was zu den Punkten gesagt wurde. Es wurde so dargestellt, als könne und würde man Diskriminierungen frei erfinden und so eine endlos lange, künstliche Liste erzeugen. Beim zweiten Punkt wird es noch deutlicher, weil alles Beschriebene direkt zu Beginn als Behauptung abgewertet wird. Aussagen von Karim Fereidooni (dessen Name übrigens auf der Präsentation von Sander falsch geschrieben wurde) wurden meiner Erinnerung nach nicht richtig oder in einem verzerrenden Kontext wiedergegeben.
Sander machte sich darüber lustig, dass scheinbar alle rassistisch sozialisiert sein sollten, dass es keinen Rassismus gegen Weiße geben könne und deutete an, dass Karim Fereidooni nicht (so richtig) wissenschaftlich arbeiten würde. Fachliteratur zu Rassismus entwerte er als Szene-Literatur, als sei das etwas, das in irgendwelchen Clubs gehandelt wird. An Empirie würde es hier fehlen. Er verspottete Betroffene von Rassismus, indem er sagte, dass sie für sich beanspruchen würden, zu bestimmen, was rassistisch sei und man allein daran ableiten könne, wie unsachlich und lächerlich diese Debatte sei.
Woke vs. Wissenschaft
Es folgten unzählige Ausführungen und Anekdoten darüber, dass nur noch schwule Personen in Filmen Schwule spielen dürfen, dass an einer Hochschule Student:innen eine Benachteiligung bei der Notengebung erfahren, wenn sie nicht gendern, dass Wörter und Literatur verboten und Straßennamen geändert werden, dass Personen wegen der aktivistischen ‚Wokeness‘-Bewegung gecancelt werden und den Job verlieren und vieles mehr. Außerdem verhöhnte er die Forderung nach Diversität, da auch hier die Liste endlos und deshalb am Ende überhaupt nicht umsetzbar sei, Gremien, Panels oder sonstige Gruppierungen immer mit einer Frau, einer migrantischen oder einer behinderten Person usw. zu besetzen.
Sander wollte deutlich machen, dass er die hohe Kunst der Wissenschaft, Sachlichkeit, Empirie, sowie Haltung und Werte der Demokratie vertrete und die aktivistische ‚Wokeness‘-Bewegung das genaue Gegenteil davon darstelle. Die Woken agierten moralisch und quasi-religiös aufgeladen (wobei es dadurch mehr um Glauben statt Wissen geht) und übten Druck auf die Demokratie aus, indem sie die Politik moralisieren (wobei nicht Argumente zählen, sondern die richtige Seite bzw. ihre), Rederechte- und verbote erteilt werden, die Repräsentation durch Quotierungen (Diversität und so) bedroht und eine antiwestliche Grundhaltung eingenommen wird.
Folgen
Als jemand, der von klein auf immer wieder Diskriminierungserfahrungen gemacht hat und sehr wahrscheinlich bis an sein Lebensende machen wird, war es an vielen Stellen verletzend und grenzüberschreitend, was bei der Tagung gesagt wurde. Weil ich seit vielen Jahren regelmäßig mit der Landeszentrale für politische Bildung als Lehrer, Fortbildner oder Referent für Demokratiebildung und SMV kooperiere und ihre Arbeit sehr schätze, hatte ich mit so einem Verlauf der Tagung nicht gerechnet und wurde überwältigt.
Druck auf Demokratie
Dass jemand auf die Idee kommt, die Bedrohung für eine Demokratie bei Personen zu sehen, die sich für eine Gesellschaft engagieren, in der niemand aufgrund seiner Hautfarbe, Religion, Nationalität oder anderer Merkmale benachteiligt, ausgegrenzt oder sogar ermordet wird, ist mehr als irritierend. Und das, während immer wieder über rechtsextreme Personen bzw. (Chat-)Gruppen bei der Polizei, beim SEK, bei der Bundeswehr, Feuerwehr, beim BND oder in der Justiz berichtet wird. Ganz im Gegenteil – die strukturellen und institutionellen Probleme wurden von ihm relativiert oder negiert.
Prof. Dr. Sander wurde als Koryphäe der politischen Bildung vorgestellt und dass jede:r Gemeinschaftskundelehrer:in seine Bücher gelesen, studiert habe. Sein Wort und sein Ansehen haben Gewicht. Oder zumindest hatten sie es einmal. (Was eine mögliche Erklärung für das Abdriften sein könnte.) So schließt sich der Kreis zur Anfangsfrage, wer bestimmt, was eine Krise ist, ob es sich um eine handelt, welche Demokratie diskutiert werden soll oder was demokratisch ist. Mit seinem Vortrag (und seinen Antworten auf Fragen im Anschluss) erhielt Sander bei dieser Tagung viel Zeit und Raum, den gedanklichen Rahmen zu setzen und Fokus zu legen.
Weil ich fassungslos während seines Vortrags über seine Aussagen bei Mastodon und Twitter schrieb, erhielt die Sache mehr Aufmerksamkeit. Natürlich auch durch diesen Beitrag. Falls dadurch morgen jemand beschließen sollte, ihn nicht mehr als Redner einzuladen, würde er das wahrscheinlich als Canceln beschreiben. Durch seine Erzählung und Logik macht er sich frei von jeglicher Kritik. (Canceln meint meiner Erfahrung nach ohnehin in den meisten Fällen, weiterhin etwas sagen und tun zu können, ohne Widerspruch und Widerstand zu erhalten.) So wird dann etwas von Grund auf Demokratisches, sich kritisch mit Istzuständen und Aussagen auseinanderzusetzen, als etwas Undemokratisches bezeichnet. Demokratie wird so zu einem willkürlichen Begriff, der nur noch die Deutungshoheit privilegierter Personen meint.
(Die letzten beiden Teile seiner Vortrags, in denen er auf die „Transformation der Öffentlichkeit durch Digitalisierung” und „Autoritätsdistanz durch Egozentrismus” einging, habe ich nicht aufgegriffen, weil sie keine Relevanz für das Geschilderte haben und auch ähnlich unterkomplex, einseitig oder verzerrend waren.)
II. Lösungsansätze
Erwartungen und Ansprüche
Wie die knapp 30 Personen bei der Tagung reagierten, spiegelt viele solche Ereignisse wider. Ein paar Lehrkräfte äußerten sich ebenfalls kritisch, in etwa gleich viele ihren Zuspruch und die meisten schwiegen oder verhielten sich vermeintlich neutral. (Wobei ich davon ausgehe, dass jede Person, die dort erschienen war, über das Grundwissen verfügte, dass es hier kein neutral gibt.) In den Pausen wurde dann viel in kleinen Gruppen diskutiert. So bekam ich auch von Einzelnen gesagt, wie wichtig meine Gegenrede gewesen sei. Unter vier Augen. Nicht im Plenum.
Auch wenn der Austausch mit Sander bzw. dem Gesagten zwar mehr Zeit erhielt als geplant, wurde danach das Programm fortgesetzt und (zu) viel blieb ohne Einordnung, ungesagt und ungeklärt im Raum und überdeckte den weiteren Verlauf. Die wichtige, kontroverse und kritische Debatte wurde nicht geführt. Bevor ich darauf eingehe, welche andere Lösungen möglich gewesen wären, möchte ich ein paar Fragen aufwerfen und den Lesenden (zur kritischen Selbstreflexion oder Planung) mitgeben, die mich seither beschäftigen:
Wie verhalte ich mich als Teilnehmende:r und als Organisator:in bei einer Veranstaltung, wenn Grenzen überschritten werden? Wer bestimmt die Grenzen? Wie können möglichst günstige Rahmenbedingungen geschaffen werden, damit bestimmte Grenzen nicht überschritten werden? Wie kann man Moderator:innen darauf vorbereiten? Wie lange werden Dinge toleriert, relativiert oder ignoriert, weil sie von einer Person kommen, die einst ein hohes, höheres Ansehen genoss oder eine bestimmte Leistung erbracht hat?
Ob, wann und wie jemand einschreitet bzw. agiert, muss jede Person für sich selbst entscheiden. Das hängt von vielen Faktoren ab: Wissen, Kraft, Charakter, Haltung, Rolle, Setting und vieles mehr. Es kostet natürlich Überwindung, sich in so einem Plenum wie bei der Tagung kritisch zu äußern, weil es dadurch unangenehm wird. Für alle. (Was dabei oft ausgeblendet wird, dass es in solchen Situationen zuvor nur für Betroffene unangenehm war. Für sie ist z.B. Rassismus kein Thema, das sie sich für eine Unterhaltung aussuchen, sondern prägt ihr Leben, teilweise täglich.)
(Mich kostet es jedes Mal einiges an Kraft, diese (auch emotionale) Arbeit zu leisten. Von Diskriminierungen Betroffenen wird übrigens oft erwartet, eine Aufgabe zu übernehmen, die nicht ihre, sondern die aller (Anwesenden) ist, wie z.B. sich zu Themen rund um “Ismen” selbst fortzubilden.)
Wer eine Veranstaltung organisiert, bestimmt den Rahmen und Inhalt. Soziale Netzwerke haben durch Transparenz und Kritik auch einen Beitrag geleistet, dass Podien diverser und Veranstaltungen partizipativer sind. Bei Prof. Dr. Sander hätte ein Blick auf seine Website oder seine Social-Media-Accounts und den dortigen letzten Veröffentlichungen geholfen, herauszufinden, wem man womit einen Raum geben wird. Hier hätte sich etwas mehr Recherchearbeit gelohnt.
Als jemand, der selbst viele Veranstaltungen (auch zum Thema Demokratie) plant und durchführt, habe ich mich immer wieder in Situationen erlebt, in denen ich schnell eine Entscheidung treffen musste, die alle Anwesenden betraf. Das war nie einfach. Dabei mussten unzählige Dinge abgewogen werden. Nicht immer gelingt es dabei, alles richtig zu machen. Manchmal helfen aber solche Erfahrungen, den eigenen Blick zu schärfen, wofür man einsteht und was man erreichen möchte.
(Vielleicht hätte ich nach dem Vortrag von Prof. Dr. Sander die noch ausstehenden Referent:innen und Teilnehmer:innen gefragt, ob wir in einen offenen Austausch gehen, in Gruppen und im Plenum. Damit eine wesentliche Debatte geführt werden kann, von und mit den Lehrkräften, die diese morgen in ihrer Schule mit ihren Klassen, ihrem Kollegium und den Eltern ihrer Schüler:innen führen. Das ist aber hinterher immer einfach gesagt.)
Was kann Schule leisten?
Die Realität, auf deren Grundlage Herausforderungen der politischen Bildung bzw. Demokratiebildung für Gesellschaft und Schule diskutiert werden, zeichnet ein gegenteiliges Bild zu den oben erläuterten Ausführungen der Tagung. Junge Menschen erfahren Rassismus, werden institutionell diskriminiert und Lehrkräfte müssen mit Literatur arbeiten, die Rassismus reproduziert und Menschen verletzt. Ein zentrales Problem dabei ist, dass Diskriminierungen von zu vielen Menschen nicht gesehen und erkannt werden. (Weshalb Dominik Lucha u.a. diesen Instagram-Account zu Alltagsrassismus erstellt hat.)
Natürlich steigt in einer sich ständig wandelnden Gesellschaft der Wunsch, aber auch die Notwendigkeit nach Veränderungen. Das betrifft ebenfalls demokratische Strukturen und Prozesse, die an manchen Stellen immer weniger bis gar nicht mehr funktionieren. Für Menschen, die dabei einen Machtverlust befürchten, müssen Forderungen nach Gleichberechtigung, Mitsprache und Mitbestimmung wie eine große Gefahr wirken. Da Schulen an sich einen Raum und ein Konzept darstellen, in dem die Macht klar und hierarchisch angelegt ist, wirkt jede Bemühung nach mehr Beteiligung junger Menschen dem System entgegen und erfährt Widerstand.
Trotz mancher ungünstiger Bedingung machen sich (meiner beruflichen Erfahrung nach) immer mehr Schulleitungen und Lehrkräfte auf den Weg, weil sie im Kontext der globalen Krisen eine demokratische Verantwortung sehen und annehmen. Sie möchten jungen Menschen an ihrer Schule ermöglichen, dass sie mehr Demokratie erfahren, (er)leben können. Das gelingt besonders gut, wenn alle am Schulleben Beteiligten partizipieren können, ein wirksamer und nachhaltiger Prozess angegangen (was am Ende auf eine Frage der Ressourcen und Priorität hinausläuft), von möglichst vielen getragen und von einer diversen Gruppe koordiniert wird.
Im Ethikunterricht diskutieren wir viel über komplexe gesellschaftliche Themen, über die öffentlich kontrovers gestritten wird. Die Schüler:innen sind dabei entweder gut informiert oder interessiert, Neues zu lernen und andere Perspektiven zu erfahren. Der Konsens im Raum lautet: Wir wissen, nicht immer alles richtig zu machen, benennen offen Probleme, suchen gemeinsam nach Lösungen, gestehen Fehler ein, entschuldigen uns und arbeiten zusammen daran, es für alle besser zu machen. Das gilt für alle Schüler:innen, wie auch für mich als Lehrkraft.
So ein beschriebener Aushandlungsraum erfordert ein Umdenken und einen Rollenwandel bei allen Beteiligten und kostet viel Zeit, Kraft und gegenseitiges Vertrauen. Es ist meiner Erfahrung nach aber ein wirksamer Ansatz, wie junge Menschen lernen, Verantwortung zu übernehmen, Probleme zu lösen, sich als selbstwirksam erfahren, konstruktiv miteinander streiten und einen Konsens aushandeln lernen. Demokratie ist kein Endzustand, sondern muss immer wieder neu erkämpft werden. Was junge Menschen dazu in der Schule lernen, wird die zukünftige Gesellschaft prägen.
„Ich nenne den Zustand, in dem weiße Menschen leben, bevor sie sich aktiv und bewusst mit Rassismus beschäftigen »Happyland«.“ (Ogette, Tupoka (2017): exit RACISM – rassismuskritisch denken lernen. München: UNRAST-Verlag, S. 21)
Nachdem der Ethik-Kurs den Wunsch formulierte, sich im Unterricht mit Rassismus und anderen Ismen vertieft auseinanderzusetzen , stiegen wir mit exit RACISM von Tupoka Ogette ein. (Weshalb sich dieses Buch hervorragend für den Unterrichtseinsatz eignet, habe ich bereits letztes Jahr hier aufgeschrieben.) Zu Beginn des Buches zeichnet Tupoka Ogette ein Bild von Happyland, das die wesentlichen Aspekte von Rassismus kurz und prägnant im Kern beschreibt.
„Happyland ist eine Welt, in der Rassismus das Vergehen der Anderen ist. In Happyland wissen alle Bewohner*innen, dass Rassismus etwas Grundschlechtes ist. Etwas, das es zu verachten gilt. Rassismus ist in Happyland enorm moralisch aufgeladen. Rassismus ist NPD, Baseballschläger, Glatzen und inzwischen auch die AfD. Es ist Hoyerswerda, Hitler und der Ku-Klux-Klan. Der Begriff ist nicht ambivalent, denn rassistisch ist, wer schlecht ist. Darüber gibt es in Happyland einen Konsens. Gelernt hat die*der Happyländer*in dies seit seiner oder ihrer* Kindheit. Immer wieder wurde es ihm oder ihr* eingebläut. Im Selbstverständnis der Happyländer und -länderinnen* hat das Wort ›Rassismus‹ keinen Platz.“ (Ogette 2017, S. 17)
Weil sich die Ismen darin gleichen und gegenseitig bedingen können (Intersektionalität), habe ich das Modell Happyland abstrahiert und als Schablone für weitere Diskriminierungsformen verwendet. Wie genau und weshalb ich das getan habe, erkläre ich in diesem Blogbeitrag und teile neben meinen Gedanken auch die Slides, die ich verwendet habe (und die ihr gerne nutzen und remixen könnt).
Weil Schule auch ein Produkt und Abbild der Gesellschaft darstellt, liegen innerhalb des Schulraums die gleichen gesellschaftlichen und strukturellen Probleme vor wie außerhalb. Deshalb ist eine ehrliche und ernsthafte Auseinandersetzung mit Ismen für das Zusammenleben während und nach der Schulzeit aus individueller und gesellschaftlicher Sicht ein Muss. Wer sich länger und intensiver mit Ismen beschäftigt, stellt fest, dass sie auf verwandten, teilweise gleichen Machtstrukturen beruhen und in der Regel auch einer ähnlichen Logik folgen. An dieser Stelle bietet Happyland einen Zugang zu strukturellen und Alltagsproblemen, der einen einfachen Transfer auf andere Ismen ermöglicht.
Bisher bin ich dem Prinzip des Buches (als Mitmach-Buch) im Unterricht (Klasse 10) gefolgt und habe das Kapitel Willkommen in Happyland! vorgelesen oder hören lassen. Danach haben die Schüler:innen den interaktiven Teil bzw. die dort formulierten Fragen bearbeitet. Im Anschluss wurden einige Gedanken (von Freiwilligen) ausgetauscht, die Antworten von Student:innen aus dem Buch vorgelesen und darüber diskutiert. Diese Slide und Zusammenfassung diente dabei als gemeinsame Grundlage und Orientierung:
Ein kleiner Hinweis für Lehrende: Es bietet sich zu Beginn an, den Satz Rassismus ist… von allen vervollständigen oder Beispiele für Rassismus notieren und diskutieren zu lassen. Die Beispiele sollten am besten in einem Etherpad, wie dem ZUMPad, eingetragen und gesammelt werden. So kann jede Person anonym agieren und für Betroffene, wenn nötig, ein Schutzraum geschaffen werden. Die Notizen des Kurses können das bisherige Wissen, Verständnis oder auch Erfahrungen transparent machen, und als Folie dienen, die zu einem späteren Zeitpunkt mit gängigen Definitionen abgeglichen oder mit erworbenen Kenntnissen neu kontextualisiert werden kann.
Wenn die Weltanschauung in und Funktion von Happyland einmal verstanden wurde, können sie einfach auf weitere Ismen übertragen werden. Als ich meinen Kurs nach anderen Ismen fragte, wurde Sexismus genannt. Als dazu Vorstellungen und Fälle von Schülern beschrieben wurden, die zu den Aspekten „ein Vergehen der Anderen“ oder „extreme Grenzüberschreitungen“ und Beispielen wie Hoyerswerda oder Hitler zugeordnet werden konnten, kam die nächste Slide ins Spiel, die Happyland vom bisherigen Kontext abstrahiert und als Schablone für andere Ismen bzw. weitere Happyländer funktioniert:
Weil Ismen strukturell (gesellschaftlich und institutionell) verankert sind, kann der Vergleich und Transfer (wie von mir beschrieben, angeregt durch eine kurzen Austausch über Sexismus) in der Regel gelingen. Die Abstraktion und der Transfer begünstigen auf eine einfache Weise die Erkenntnis, dass es mehrere Happyländer gibt, die es zu überwinden und zu verlassen gilt. Der Ethik-Kurs wird sich aufgrund von Fragen, die Schüler:innen zu Beginn des Schuljahres gestellt haben, und Diskussionen, die sie geführt haben, mit folgenden Ismen beschäftigen:
Ein zweiter kleiner Hinweis (nicht nur für Lehrende): Adultismus ist in der Regel wenigen Menschen bekannt, obwohl er in Bildungsstrukturen und -prozessen verankert ist und die Kultur an Schulen wesentlich prägt. Er kann es z.B. auch jungen Menschen erschweren, sich bei rassistischen oder sexistischen Vorfällen zu wehren, wenn ihre Anliegen relativiert, nicht ernst genommen oder ignoriert werden, was wiederum sehr konkret die Notwendigkeit intersektionaler Ansätze verdeutlicht.
Die wesentlichen Ziele bei Auseinandersetzungen mit Ismen sollten sein, dass junge Menschen
die Machtstrukturen, Funktionen, Wirkungen und Anwendungen von Diskriminierungsformen erfassen, aber auch die Notwendigkeit von intersektionaler Betrachtung verstehen, um für sich und (mit) andere(n) wirksame und nachhaltige Ansätze entwickeln zu können.
lernen, diskriminierungskritisch zu denken und Ansätze kennenlernen und entwickeln, wie ein diskriminierungskritischer Alltag gelingen kann.
ihren Wirkungsraum und den Rahmen ihrer Möglichkeiten begreifen und erweitern können.
falls sie von Diskrimierung betroffen sind, gestärkt werden, Strategien kennenlernen und entwickeln können, die ihnen helfen.
Den letzten Punkt dieser Auflistung möchte ich hervorheben. Wenn im schulischen Kontext Auseinandersetzungen mit Ismen erfolgen, beschränken sie sich nicht selten auf eine Perspektive, in der Betroffene ausschließlich als Opfer auftreten und nur auf Probleme hingewiesen wird. Es braucht aber auch Perspektiven, die Betroffene zeigen, in denen sie selbstermächtigt auftreten und handeln. Und junge Menschen müssen bezüglich ihrer persönlichen Diskriminierungserfahrungen besonders geschützt, unterstützt und gestärkt werden. Jede Schule sollte eine diskriminierungskritische Schule sein und eine Kultur leben, in der Alltagsdiskriminierungen angesprochen und angegangen werden, um Happyländer gemeinsam zu verlassen.
Dafür braucht es keine Schilder an Schulhäusern, keine pressewirksamen Veranstaltungen oder Zertifikate. Die Entwicklung einer Schulkultur, die ihre strukturellen Probleme nicht relativiert oder negiert, sondern ehrlich damit umgeht und sich ernsthaft damit auseinandersetzt, ist ein anstrengender, nie endender und zäher Prozess mit vielen unangenehmen Situationen und Gesprächen. Dadurch entsteht aber auch eine gerechtere, solidarischere und freiere Kultur. Wie anfangs beschrieben, bilden Schul- und Klassenräume die Gesellschaft ab, die auch divers ist. Diese Diversität braucht einen Raum, in dem alle Beteiligten ein respektvolles Miteinander lernen und leben können. Alle am Schulleben Beteiligten, die sich darum bemühen, tragen dazu bei, dass dies auch nach der Schule gesamtgesellschaftlich besser gelingt.
Hier können die Slides als keynote-, pdf- oder pptx-Datei heruntergeladen werden: