Letzten Sonntag deaktivierte ich nach fast zehn Jahren meinen Twitter-Account bzw. mittlerweile X-Account und löschte die Twitter-App von allen Geräten. Es war eine persönliche, aber auch politische Entscheidung. Auch wenn das unterhaltsame GIFs, lustige Memes oder süßer Katzencontent einen immer wieder vergessen lassen können: soziale Netzwerke sind politisch. Wer und was gesehen wird, ist bzw. wird relevant gemacht und prägt öffentliche Debatten oder sogar politische Entscheidungen. Soziale Netzwerke haben nicht nur zu grundlegenden Veränderungen in vielen Bereichen geführt, sie unterliegen auch selbst einem stetigen Wandel. Musk und sein Projekt X sind ein guter Anlass, darüber zu sprechen, wie soziale Netzwerke funktionieren, wirken und genutzt werden. Vielleicht ist die Zeit reif und der Moment günstig für eine Idee von sozialen Netzwerken, die klüger machen, zur Beteiligung einladen und befähigen und sich an Werten orientieren, die Demokratien schützen und stärken können.

Sozial, ökonomisch und politisch

Musk und X sind nur der nächste Schritt einer sich schon lange vollziehenden Entwicklung. Es ist nicht so, dass Jack Dorsey und sein Twitter, bevor es im Oktober 2022 an Musk verkauft wurde, ein demokratisches Vorzeigeprojekt gewesen wären. Auch er ist ein Milliardär, der Spielfelder und Regeln öffentlicher Debatten bestimmt. Nur, weil Dorsey weniger als Egomane mit fragwürdigen Werten und Handlungen bekannt ist und auch mal größere Summen für gute Zwecke spendet, ändert das nichts am zentralen Problem: Einzelne reiche Menschen (weiße Männer) können (zu sehr) bestimmen, wer und was auf ihren Plattformen eine Bühne erhält. Dabei folgen sie in der Regel einer ökonomischen bzw. kapitalistischen Logik. Wenn es dem Geschäftmodell dient, wird auch denen die Hand gereicht, die Demokratien schwächen oder sogar zerstören möchten. 

Facebook ist mit knapp 3 Milliarden Nutzer*innen die weltweit größte Plattform. Ein soziales Netzwerk, über das man anfangs Personen wiederfand, die man aus dem Blick verloren hatte und das so Menschen weltweit miteinander verband (und dadurch vieles grundlegend veränderte). Für meine Frau und mich war es vor über zehn Jahren eine einfache Möglichkeit, mit unseren Verwandten, die größtenteils in Finnland, Serbien und Nordmazedonien lebten, im Austausch zu bleiben. Es wurden schöne und schmerzhafte Momente miteinander geteilt und die räumliche Entfernung schien plötzlich überwunden. 

In den letzten Jahren wurde Facebook zunehmend zu einer Werbeplattform umfunktioniert. Zum Beispiel die chronologische Timeline mit Fotos und Updates aus dem Leben von Familienmitgliedern, Freunden und Bekannten musste früh weichen. Ersetzt wurde sie irgendwann durch eine Auswahl an Beiträgen, die laut eines Algorithmus einen interessieren könnten oder sollten. Von wenigen Personen, mit denen man vernetzt war, von Fremden und immer mehr von Produkten. Das soziale Netzwerk wandelte sich schleichend, aber stetig zu einem ökonomischen. 

Diese Ökonomisierung führte auch zur Verstärkung des Politischen. Es lässt sich darüber streiten, wie und wie stark sich der Ausgang von Wahlen oder politischen Entscheidungen von und mit sozialen Netzwerken beeinflussen lassen. Dass ein Einfluss besteht, ist unumstritten. Das Versprechen von Microtargeting war ein Schritt auf diesem Weg. Ein weiterer, dass Algorithmen bzw. Milliardäre, die diese so programmiert haben wollten, menschenfeindliche und demokratiegefährdende Inhalte breit gestreut und begünstigt haben oder um es in ökonomisch betrachtet einzuordnen: Was Klicks und Aufmerksamkeit erzeugte, ließ sich für höhere Beträge verkaufen und war profitabel.

Möchte an der Stelle erinnern, dass Dorsey den Account von Trump erst im Januar 2021 sperrte, nachdem er zum Sturm auf das Kapitol aufrief. Die vielen Jahre zuvor schuf und gab er ihm gerne eine Bühne mit weltweitem Einfluss, die zu Trumps politischem Erfolg und dem Demokratieabbau (nicht nur) in den USA beitrug, wovon Dorsey profitierte.

Einer der größten Erfolge des Neoliberalismus und Kapitalismus ist die weit verbreitete (gezielt gestreute und erfolgreich beworbene) Erzählung und das Missverständnis, die Ökonomie würde, wie Naturwissenschaften, naturgegebenen Gesetzen folgen und wäre neutral, logisch und unpolitisch. Wie es dazu kam und weshalb das falsch ist, kann man u.a. in dem Buch Die Donut-Ökonomie von Kate Raworth nachlesen. Sie erklärt auch sehr anschaulich, wie stark allein die Bilder und Ideen der Ökonomie unseren Alltag prägen, wie wir uns verstehen und handeln. 

Der Begriff User*innen/Nutzer*innen verdeutlicht dieses Bild auf individueller Ebene und welche Rolle mir zugesprochen wird. Plattformen sozialer Netzwerke sind dabei als Dienstleistungen zu verstehen, die von Kund*innen genutzt werden können. Besiegelt durch allgemeine Geschäftsbeziehungen. Dass sie schon immer auch zur Gestaltung des zivilgesellschaftlichen und politischen Zusammenlebens genutzt wurden, liegt weniger an der Einladung oder Idee der Tech-Milliardäre, sondern mehr am natürlichen Interesse und Antrieb von Menschen, sich mehr als Bürger*innen statt Kund*innen zu verstehen. Was aber auch nur geduldet wird, solange es dem Geschäftsmodell dient und nicht schadet. 

Vielleicht lässt sich das Zusammenspiel zwischen der sozialen, ökonomischen und politischen Funktion, Nutzung und Wirkung auf folgende Weise zusammenfassen:

Sozial steht hier für das Interesse von Menschen, sich über Dinge auszutauschen, die sie bestimmen. Ökonomisch steht für das wirtschaftliche bzw. kapitalistische Interesse von Zuckerberg, Musk & Co, mit ihren Plattformen möglichst viel Geld zu verdienen. Der rote Regler soll die Möglichkeit darstellen, dass sich der Schwerpunkt eines sozialen Netzwerkes zwischen sozial und ökonomisch verschieben kann und lässt, aber dabei stets politisch bleibt. Mit diesem Bild könnte man beschreiben, dass der Regler bei Facebook in den ersten Jahren stark auf der sozialen Seite lag und danach immer stärker zur ökonomischen verschoben wurde. (Was je nach Land und Kontinent sicher unterschiedlich war und wahrgenommen wurde.) 

Je mehr Menschen einer Plattform beitreten, umso sozial, ökonomisch und politisch relevanter wird sie. Was das Werben um neue, mehr Mitglieder ökonomisch erklärt, sozial begründet und politisch interessant macht. Neben der Masse kann auch das Wer eine bedeutende Rolle spielen. Wer sich bei einer Plattform anmeldet und sich aktiv beteiligt, trägt zu ihrer Relevanz bei. Je bekannter und beliebter eine Person, umso stärker ihre Wirkung und Verantwortung.

Architektur und Kultur sozialer Netzwerke 

Bei Facebook postest du, dass und wo du Pizza essen gehst, bei Instagram teilst du ein Foto der Pizza und bei Twitter schreibst du darüber. Das war lange Zeit eine grobe, aber auch treffende Zusammenfassung und Unterscheidung ihrer Funktionen und Nutzungen. Während die Suche nach Ideen und Konzepten, mit sozialen Netzwerken Geld zu verdienen, immer stärker in den Vordergrund rückte, schwanden damit auch vermehrt die einstigen, teilweise deutlichen Unterschiede sozialer Netzwerke. (Ein bekanntes Kapitel dieser Angleichungen war die Phase, in der scheinbar jedes soziale Netzwerk die Story-Funktion haben musste.)

Die Begrenzung auf 140 Zeichen hat Twitter lange Zeit ausgezeichnet. Es hat bestimmte Menschen angesprochen, zusammengeführt und eine besondere, vielschichtige Kultur entstehen und sich entwickeln lassen. So konnten sich beispielsweise wenig privilegierte Personen/-gruppen, die über keinen der exklusiven Zugänge zu TV- und Printmedien verfügten, selbst ihre Bühnen schaffen, wichtige Themen setzen und vor einer breiten Öffentlichkeit strukturelle Probleme ansprechen und sichtbar machen. Es konnten so zahlreiche gesellschaftliche Auseinandersetzungen eingeleitet und politischer Druck aufgebaut werden. (Das Buch Twitter and Tear Gas von Zeynep Tüfekçi eröffnet hier u.a. einige Perspektiven, welche enorme Funktion, Nutzung und Wirkung Twitter hatte.)  

140 Zeichen konnten zwar einerseits als Einladung zur Reduktion auf das Wesentliche verstanden werden, mit der Aufgabe, Dinge auf den Punkt zu bringen. Andererseits begünstigte die Zeichenbegrenzung auch eine Verkürzung, Vereinfachung von komplexen Sachverhalten und populistische Aussagen. So konnten ebenfalls Personen (ohne eine fachlich relevante Expertise) zu Twitter-Berühmtheiten aufsteigen, nur weil sie das Empörungsspiel perfekt beherrschten. Leider war hier die populäre Einordnung „berühmt bei Twitter ist wie reich bei Monopoly“ auch oft eine Verkürzung. Die Transformation der Öffentlichkeit und damit auch die Medienlandschaft hat eine Aufmerksamkeitsökonomie entstehen lassen, die mehr dazu beiträgt, Probleme zu verstärken als sie zu lösen.

Das skizzierte 140 Zeichen-Beispiel zeigt, wie die Affordanz (wozu etwas einlädt; wie z.B. ein Stuhl zum Sitzen einlädt), technische Architektur, neben der bereits erklärten Unterscheidung und Verschiebung zwischen sozial und ökonomisch, die Kultur eines sozialen Netzwerks prägen kann und lässt die komplexen Zusammenhänge zwischen Technik und Kultur erahnen. Ob und wie eine Moderation stattfindet, ist hier ein weiteres, wichtiges und beeinflussendes Element. Soziale Netzwerke sind nicht nur technische Möglichkeiten eines Accounts, sondern (unterschiedlich stark) Teil der eigenen Identität, persönlichen Geschichte. Auch meiner. Was u.a. die Wut, Ohnmacht, Trauer oder Verdrängung zahlreicher Menschen über die Zerstörung von Twitter durch Musk erklärt.

Welche sozialen Netzwerke braucht es?

Lange Zeit galt, dass man mit Twitter viel erreichen kann, nur kein Geld verdienen. Das wollte Musk (aus welchen Gründen auch immer) ändern und hat wie Zuckerberg den Regler von sozial zu ökonomisch verschoben. Was bei Facebook aber ein schleichender Prozess über viele Jahre war, hat Musk in kurzer Zeit vollzogen. Neben dem hohen Tempo und der fragwürdigen Twitter Blue-Idee spielten aber auch die Kultur und Community (wer, wie und worüber sich ausgetauscht wurde) beim Scheitern eine zentrale Rolle. Das “Ende von Twitter” kann als ein Beispiel dienen, wohin die Reise zunehmender Ökonomisierung sozialer Netzwerke führen kann.

Vielleicht ist die Zeit aber auch reif und günstig für andere, allgemein hilfreichere gesellschaftliche Entwicklungen. Die Klimakrise, Demokratiekrisen und vielen anderen komplexen gesellschaftlichen Herausforderungen und Probleme zeigen, dass es soziale Netzwerke braucht, die das bestärken, was ohnehin immer schon da war: ein soziales Netzwerk der Bürger*innen. In Krisen wurden immer wieder bei Facebook-Gruppen eröffnet und bei Twitter Hashtags ins Leben gerufen, die Menschen in unterschiedlicher Weise halfen und solidarisches Handeln organisierten. Hier waren es Bürger*innen, die sozialen Interessen folgten und keine Kund*innen, die eine kapitalistische Logik erfüllten.

Es bräuchte somit soziale Netzwerke, die Menschen einladen und befähigen Bürger*innen zu sein und den Regler zu sozial und selbstbestimmt schieben. Wo ihre Handlung nicht darauf beschränkt wird, aus fertigen Menüs auszuwählen, sondern sie selbst Rezepte und ihre Zubereitung lernen und bestimmen können. Es bräuchte auch einen größtmöglichen Schutz, nicht vom nächsten Musk aufgekauft zu werden und zu verhindern, dass Menschen wieder in die Kund*innenrolle gedrängt bzw. darauf reduziert werden, fremdgesteuert von Algorithmen. (Was sicher komplexer ist als es auf den ersten Blick scheint.)

Wie wäre es mit einem sozialen Netzwerk, das ein digitaler Begegnungsraum und Dritter Ort ohne Konsumzwang, wie Stadtbibliotheken oder Museen, sein könnte?  Wie wäre es mit einem sozialen Netzwerk, bei dem die Werte, an denen sich mögliche, neue Funktionen, Nutzungen und Wirkungen orientieren, gemeinsam ausgehandelt werden und Demokratien stärkend sein können? Seit dem Niedergang Twitters setzen hier immer mehr Menschen auf Mastodon, das keine geschlossene Plattform wie Facebook oder X bietet, sondern eine dezentrale und offene Lösung darstellt, die einer anderen Logik folgt. Was das genau (nicht nur technisch) bedeutet, hat freundlicherweise Steffen Voß hier aufgeschrieben. 

Auch Bluesky ist in den letzten Wochen im deutschsprachigen Raum gewachsen und wirbt auf seiner Website mit Dezentralität und Offenheit. Aktuell ist das soziale Netzwerk aber das Gegenteil davon bzw. fällt durch erzeugte Exklusivität auf, weil man ihm nur durch einen Invite-Code beitreten kann, den ausschließlich Personen erhalten und vergeben können, die bereits dort sind. Das und die Tatsache, dass Jack Dorsey (der auf jeden Fall auch politisch kritisch betrachtet werden sollte) bei Bluesky keinen geringen Einfluss hat, sollte bei jeder Person zumindest eine gesunde Skepsis auslösen.

Wer bereits viel Zeit und Kraft in ein soziales Netzwerk investiert hat, stellt sich umso mehr die Frage, ob und wo ein weiteres Mal investiert werden möchte, kann und soll. Folgende und viele weitere Fragen beschäftigten mich die letzten Monate immer stärker bei X:

Was muss (noch) geschehen, um ein soziales Netzwerk zu verlassen? Genügt es z.B., wenn Accounts zugelassen und begünstigt werden, die menschen- und demokratiefeindliche Aussagen verbreiten, Hass schüren und Personen beleidigen oder sogar bedrohen? Oder ist hier die Menge und Qualität entscheidend? Wo endet die persönliche Grenze und Betroffenheit und beginnt die gesellschaftliche Verantwortung? Wie entwickelt sich das Verhältnis zwischen Information und Desinformation?

Manche dieser Fragen stellte ich auch bei Twitter. Nicht selten lautete die Antwort darauf, dass die beschriebenen Dinge einen selbst nicht betreffen würden oder man das nie erlebt habe und es somit unbekannte Phänomen seien, die es vielleicht auch gar nicht gäbe. Aussagen, die allen bekannt vorkommen, die sich mit Rassismus, Sexismus oder anderen Ismen auseinandersetzen und die Teil struktureller Probleme sind: Privilegierte kennen und sehen ihre Privilegien nicht. X ist nicht die Ursache von Rassismus, Sexismus und den anderen Ismen, aber die Plattform begünstigt und verstärkt sie.

Es gibt keine einfache technische Lösung für komplexe gesellschaftliche Probleme. Weshalb eine andere technische Architektur, Affordanz und Moderation nicht automatisch zu weniger Ismen führen oder ihnen von sich aus entgegenwirken. Weshalb Mastodon und das Fediverse mit seinem dezentralen und offenen Ansatz eine Möglichkeit darstellen, es besser machen zu können, ohne zwangsläufig besser zu sein. Mehr Diversität und Beteiligung können ermöglicht und gefördert werden. Können. Zumindest begünstigen die fehlenden Algorithmen und die Abwesenheit ökonomischer, kapitalistischer Logik, dass die Rolle der Bürger*innen und nicht der Kund*innen gestärkt wird. 

„Was tun wir uns selbst an, wenn wir uns 3.000 Mal am Tag sagen, dass wir Konsument*innen sind? […] Wie sähe es aus, wenn wir die gleiche Energie und Inspiration, die wir derzeit darauf verwenden, uns zu sagen, Konsument*innen zu sein, in den Aufbau unserer Handlungsfähigkeit als Bürger*innen stecken?“ 

Jon Alexander, Citizens – Why the key to fixing everything is all of us

Mastodon ist seit einigen Monaten mein neuer Erstwohnsitz im Netz. Seitdem fühle ich mich weniger von Algorithmen und Empörungsspiralen getrieben. Zum Beispiel nicht mehr zu sehen, ob und wie jemand auf einen Beitrag reagiert, den eine andere Person gepostet und ich geteilt habe (retweeten/boostern), hat mich anfangs irritiert, weil ich das nicht gewohnt war. Meine Wahrnehmung (von mir und anderen) und mein Verhalten haben sich dadurch verändert. Auch viele angenehme, anregende Begegnungen und Gespräche haben diese Zeit geprägt. Und doch fehlen mir (im Vergleich zu Twitter, nicht X) noch die vielen diversen und internationalen Expertisen und Perspektiven von Künstler*innen und Wissenschaftler*innen. Nicht alles ist perfekt bei Mastodon. Aber der Ansatz, das Potenzial und die aktuellen Entwicklungen lassen mich dort meine Zeit und Kraft investieren.  

(Witzigerweise gab es genau zu dem Zeitpunkt, an dem ich bei Twitter ankündigte, mich dort bald endgültig zu verabschieden und zukünftig bei Mastodon zu finden zu sein, Probleme bei det.social, der Instanz, auf der ich meinen Account habe. Ich konnte mehrere Tage von keiner Person gelesen werden, die nicht auch auf meiner Instanz war. Die Kommunikation zu diesem Problem wirkte nicht so, wie ich es erwartet hatte, weil die Instanz vom ZDF (Magazin Royale) ist und ich von einem professionellen Betrieb ausging. Da aber in den letzten Monaten scheinbar immer mehr Ressourcen und Medienhäuser sich in Richtung Mastodon bewegen, hoffe ich auf bessere Rahmenbedingungen.)

Manche behaupten, dass die Zeit sozialer Netzwerke und wie sie lange funktionierten ohnehin vorbei sei. Vielleicht ist da was dran. Das würde trotzdem nicht der Idee widersprechen, dass die Zeit reif und günstig für neue, bessere gesellschaftliche Lösungen sei. Dieser Beitrag ist eine Einladung darüber nachzudenken und vor allem mitzumachen, zu experimentieren, sich auf Neues einzulassen, sich von der Kund*innenrolle zu befreien und vielleicht ein soziales Netzwerke zu erreichen, in dem wir uns als Bürger*innen (neu) entdecken und begegnen.  

I. Das Problem

Demokratie unter Druck lautete der Titel einer Tagung der Landeszentrale für politische Bildung, bei der letzten Dienstag und Mittwoch die Herausforderungen der politischen Bildung bzw. Demokratiebildung für Gesellschaft und Schule aus “diversen“ Perspektiven betrachtet und im Anschluss diskutiert werden sollten. Prof. Dr. Wolfgang Sander (von der Justus-Liebig-Universität Gießen) erläuterte dabei in seinem Vortrag ausführlich, welche Gefahren für eine Demokratie von einer aktivistischen “Wokeness-Bewegung“ ausgehen würden, die lächerliche Diversitätsforderungen stelle, Student:innen zum Gendern zwingen möchte, einen Identitätskampf führe, Sprachverbote verhänge und Cancel Culture betreibe. Die Ausführungen von Sander stießen bei einigen Anwesenden auf Resonanz, sie hielten flammende Reden, weshalb sie nicht mehr das Z- oder N-Wort sagen dürfen (wobei sie es ausgesprochen haben).

Direkt nach seinem Vortrag hielt ich eine Gegenrede. Manche Lehrkräfte schlossen sich meiner Kritik an. Später hielten meine Kollegin und ich unseren Impulsvortrag, den wir in der Zwischenzeit um ein paar Folien verändert hatten, um einige Aussagen von Herrn Sander besser einordnen zu können. Um besser zu verstehen, was vorgefallen war, tauschte ich mich in den letzten Tagen mit einigen Personen zum Geschehen aus. Ein Fazit dieser Gespräche war, dass der Verlauf der Tagung widerspiegelt, wie viele Debatten rund um Demokratie/-bildung geführt werden, unter welchen  Rahmenbedingungen das stattfindet und welche Hürden es zu überwinden gilt.

Weil ich denke, dass das häufiger, ehrlicher und öffentlicher diskutiert werden sollte, fasse ich hier einige wesentliche Gedanken und Fragen zusammen. Dieser Beitrag ist keine Replik auf den Vortrag von Wolfgang Sander. Es geht im Prinzip nicht einmal um ihn oder diese konkrete Tagung. Beides steht nur stellvertretend für Probleme und Konflikte, die vielerorts existieren und stattfinden. 

Demokratie unter Druck?

Wer diskutieren möchte, ob sich eine Demokratie in einer Krise befindet, muss nicht nur zuerst definieren, wann von einer Krise gesprochen wird, sondern auch klären, was unter Demokratie zu verstehen ist. Eine zentrale Frage dazu lautet: Wer bestimmt, wann eine Krise vorliegt und was demokratisch ist?? (Wie ein Ergebnis auf diese Frage aussehen kann, zeigt diese Visualisierung zur Wahl in Berlin.) Bei einer Tagung kann es aufschlussreich sein, sich die Redezeiten der Beiträger:innen anzusehen.

Meine Kollegin und ich erhielten am Nachmittag 20 Minuten für einen kurzen Impulsvortrag, um unsere Expertise und Perspektive aus der Praxis zur Demokratiebildung an Schulen vorzustellen. Auf einer Folie bildeten wir Namen, Foto und jeweilige Redezeiten der Referent(:inn)en ab. (Alles Infos, die wir dem Flyer zur Veranstaltung entnahmen.) Manchmal kann eine Kombination aus Bild und Text eine besondere Wirkung entfalten und zum Reflektieren anregen.

Was von uns in der Planung als freundlicher (und humorvoll verpackter) Hinweis (dass mehr Personen mit dem Vornamen Wolfgang als Frauen bei der Tagung vortragen) und Einladung an alle gedacht war, auch das eigene Denken und Handeln stets kritisch zu hinterfragen, sollte die Fortführung einer Auseinandersetzung werden, die zuvor durch den Vortrag von Sander ausgelöst wurde.

Wenn Wokeness und nicht Rassismus das Problem ist

Sander erhielt eine gute Stunde Zeit, um seine Gedanken auszubreiten, vor welchen Herausforderungen Gesellschaft und Schulen im Kontext der politischen Bildung stehen. Nach einer kurzen Einführung zum Druck auf die Demokratie durch Extremismus, widmete er die meiste Zeit seiner Ausführungen der aktivistischen ‚Wokeness‘-Bewegung. Es würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, alles aufzuführen und auf jeden Aspekt einzugehen. Zwei Punkte, die genau so auf einer seiner Präsentationsfolien standen, möchte ich aber exemplarisch aufführen: 

  • Kampf gegen ‚Diskriminierung‘ (fast) jeder Art: Rassismus (‚Kulturrassismus‘, antimuslimischer Rassismus‘), Dekolonisierung, ,kulturelle Aneignung; Sexismus, Transfeindlichkeit, Homophobie; Klassismus, Ableismus, Adultismus, Bodyismus, Lookismus, Linguizismus…
  • Behauptung, Diskriminierungen seien (intersektional) miteinander verknüpft und bildeten ein apersonales Gewebe von Machtstrukturen, das sich über Sprache (‚Diskurse‘) und daraus entstehende Normalitätsvorstellungen vermittle und absichere. Beispiel: Rassismus sei eine machtförmige Struktur, ein „weißes Dominanzsystem“, „sodass die Imagination von rassismusfreien Räumen nicht möglich ist.“ (Karim Fereidooni)

Allein anhand der einfachen oder auch halben Anführungszeichen (‚…‘), die genutzt werden, um eine wissenschaftlich unübliche Bezeichnung (u.a. Umgangssprache) darzustellen, kann man erahnen, was zu den Punkten gesagt wurde. Es wurde so dargestellt, als könne und würde man Diskriminierungen frei erfinden und so eine endlos lange, künstliche Liste erzeugen. Beim zweiten Punkt wird es noch deutlicher, weil alles Beschriebene direkt zu Beginn als Behauptung abgewertet wird. Aussagen von Karim Fereidooni (dessen Name übrigens auf der Präsentation von Sander falsch geschrieben wurde) wurden meiner Erinnerung nach nicht richtig oder in einem verzerrenden Kontext wiedergegeben. 

Sander machte sich darüber lustig, dass scheinbar alle rassistisch sozialisiert sein sollten, dass es keinen Rassismus gegen Weiße geben könne und deutete an, dass Karim Fereidooni nicht (so richtig) wissenschaftlich arbeiten würde. Fachliteratur zu Rassismus entwerte er als Szene-Literatur, als sei das etwas, das in irgendwelchen Clubs gehandelt wird. An Empirie würde es hier fehlen. Er verspottete Betroffene von Rassismus, indem er sagte, dass sie für sich beanspruchen würden, zu bestimmen, was rassistisch sei und man allein daran ableiten könne, wie unsachlich und lächerlich diese Debatte sei.

Woke vs. Wissenschaft

Es folgten unzählige Ausführungen und Anekdoten darüber, dass nur noch schwule Personen in Filmen Schwule spielen dürfen, dass an einer Hochschule Student:innen eine Benachteiligung bei der Notengebung erfahren, wenn sie nicht gendern, dass Wörter und Literatur verboten und Straßennamen geändert werden, dass Personen wegen der aktivistischen ‚Wokeness‘-Bewegung gecancelt werden und den Job verlieren und vieles mehr. Außerdem verhöhnte er die Forderung nach Diversität, da auch hier die Liste endlos und deshalb am Ende überhaupt nicht umsetzbar sei, Gremien, Panels oder sonstige Gruppierungen immer mit einer Frau, einer migrantischen oder einer  behinderten Person usw. zu besetzen.

Sander wollte deutlich machen, dass er die hohe Kunst der Wissenschaft, Sachlichkeit, Empirie, sowie Haltung und Werte der Demokratie vertrete und die aktivistische ‚Wokeness‘-Bewegung das genaue Gegenteil davon darstelle. Die Woken agierten moralisch und quasi-religiös aufgeladen (wobei es dadurch mehr um Glauben statt Wissen geht) und übten Druck auf die Demokratie aus, indem sie die Politik moralisieren (wobei nicht Argumente zählen, sondern die richtige Seite bzw. ihre), Rederechte- und verbote erteilt werden, die Repräsentation durch Quotierungen (Diversität und so) bedroht und eine antiwestliche Grundhaltung eingenommen wird.

Folgen

Als jemand, der von klein auf immer wieder Diskriminierungserfahrungen gemacht hat und sehr wahrscheinlich bis an sein Lebensende machen wird, war es an vielen Stellen verletzend und grenzüberschreitend, was bei der Tagung gesagt wurde. Weil ich seit vielen Jahren regelmäßig mit der Landeszentrale für politische Bildung als Lehrer, Fortbildner oder Referent für Demokratiebildung und SMV kooperiere und ihre Arbeit sehr schätze, hatte ich mit so einem Verlauf der Tagung nicht gerechnet und wurde überwältigt.

Druck auf Demokratie

Dass jemand auf die Idee kommt, die Bedrohung für eine Demokratie bei Personen zu sehen, die sich für eine Gesellschaft engagieren, in der niemand aufgrund seiner Hautfarbe, Religion, Nationalität oder anderer Merkmale benachteiligt, ausgegrenzt oder sogar ermordet wird, ist mehr als irritierend. Und das, während immer wieder über rechtsextreme Personen bzw. (Chat-)Gruppen bei der Polizei, beim SEK, bei der Bundeswehr, Feuerwehr, beim BND oder in der Justiz berichtet wird. Ganz im Gegenteil – die strukturellen und institutionellen Probleme wurden von ihm relativiert oder negiert.

Prof. Dr. Sander wurde als Koryphäe der politischen Bildung vorgestellt und dass jede:r Gemeinschaftskundelehrer:in seine Bücher gelesen, studiert habe. Sein Wort und sein Ansehen haben Gewicht. Oder zumindest hatten sie es einmal. (Was eine mögliche Erklärung für das Abdriften sein könnte.) So schließt sich der Kreis zur Anfangsfrage, wer bestimmt, was eine Krise ist, ob es sich um eine handelt, welche Demokratie diskutiert werden soll oder was demokratisch ist. Mit seinem Vortrag (und seinen Antworten auf Fragen im Anschluss) erhielt Sander bei dieser Tagung viel Zeit und Raum, den gedanklichen Rahmen zu setzen und Fokus zu legen.

Weil ich fassungslos während seines Vortrags über seine Aussagen bei Mastodon und Twitter schrieb, erhielt die Sache mehr Aufmerksamkeit. Natürlich auch durch diesen Beitrag. Falls dadurch morgen jemand beschließen sollte, ihn nicht mehr als Redner einzuladen, würde er das wahrscheinlich als Canceln beschreiben. Durch seine Erzählung und Logik macht er sich frei von jeglicher Kritik. (Canceln meint meiner Erfahrung nach ohnehin in den meisten Fällen, weiterhin etwas sagen und tun zu können, ohne Widerspruch und Widerstand zu erhalten.) So wird dann etwas von Grund auf Demokratisches, sich kritisch mit Istzuständen und Aussagen auseinanderzusetzen, als etwas Undemokratisches bezeichnet. Demokratie wird so zu einem willkürlichen Begriff, der nur noch die Deutungshoheit privilegierter Personen meint.    

(Die letzten beiden Teile seiner Vortrags, in denen er auf die „Transformation der Öffentlichkeit durch Digitalisierung” und „Autoritätsdistanz durch Egozentrismus” einging, habe ich nicht aufgegriffen, weil sie keine Relevanz für das Geschilderte haben und auch ähnlich unterkomplex, einseitig oder verzerrend waren.)

II. Lösungsansätze

Erwartungen und Ansprüche

Wie die knapp 30 Personen bei der Tagung reagierten, spiegelt viele solche Ereignisse wider. Ein paar Lehrkräfte äußerten sich ebenfalls kritisch, in etwa gleich viele ihren Zuspruch und die meisten schwiegen oder verhielten sich vermeintlich neutral. (Wobei ich davon ausgehe, dass jede Person, die dort erschienen war, über  das Grundwissen verfügte, dass es hier kein neutral gibt.) In den Pausen wurde dann viel in kleinen Gruppen diskutiert. So bekam ich auch von Einzelnen gesagt, wie wichtig meine Gegenrede gewesen sei. Unter vier Augen. Nicht im Plenum.

Auch wenn der Austausch mit Sander bzw. dem Gesagten zwar mehr Zeit erhielt als geplant, wurde danach das Programm fortgesetzt und (zu) viel blieb ohne Einordnung, ungesagt und ungeklärt im Raum und überdeckte den weiteren Verlauf. Die wichtige, kontroverse und kritische Debatte wurde nicht geführt. Bevor ich darauf eingehe, welche andere Lösungen möglich gewesen wären, möchte ich ein paar Fragen aufwerfen und den Lesenden (zur kritischen Selbstreflexion oder Planung) mitgeben, die mich seither beschäftigen: 

Wie verhalte ich mich als Teilnehmende:r und als Organisator:in bei einer Veranstaltung, wenn Grenzen überschritten werden? Wer bestimmt die Grenzen? Wie können möglichst günstige Rahmenbedingungen geschaffen werden, damit bestimmte Grenzen nicht überschritten werden? Wie kann man Moderator:innen darauf vorbereiten? Wie lange werden Dinge toleriert, relativiert oder ignoriert, weil sie von einer Person kommen, die einst ein hohes, höheres Ansehen genoss oder eine bestimmte Leistung erbracht hat?

Ob, wann und wie jemand einschreitet bzw. agiert, muss jede Person für sich selbst entscheiden. Das hängt von vielen Faktoren ab: Wissen, Kraft, Charakter, Haltung, Rolle, Setting und vieles mehr. Es kostet natürlich Überwindung, sich in so einem Plenum wie bei der Tagung kritisch zu äußern, weil es dadurch unangenehm wird. Für alle. (Was dabei oft ausgeblendet wird, dass es in solchen Situationen zuvor nur für Betroffene unangenehm war. Für sie ist z.B. Rassismus kein Thema, das sie sich für eine Unterhaltung aussuchen, sondern prägt ihr Leben, teilweise täglich.) 

(Mich kostet es jedes Mal einiges an Kraft, diese (auch emotionale) Arbeit zu leisten. Von Diskriminierungen Betroffenen wird übrigens oft erwartet, eine Aufgabe zu übernehmen, die nicht ihre, sondern die aller (Anwesenden) ist, wie z.B. sich zu Themen rund um “Ismen” selbst fortzubilden.)

Wer eine Veranstaltung organisiert, bestimmt den Rahmen und Inhalt. Soziale Netzwerke haben durch Transparenz und Kritik auch einen Beitrag geleistet, dass Podien diverser und Veranstaltungen partizipativer sind. Bei Prof. Dr. Sander hätte ein Blick auf seine Website oder seine Social-Media-Accounts und den dortigen letzten Veröffentlichungen geholfen, herauszufinden, wem man womit einen Raum geben wird. Hier hätte sich etwas mehr Recherchearbeit gelohnt. 

Als jemand, der selbst viele Veranstaltungen (auch zum Thema Demokratie) plant und durchführt, habe ich mich immer wieder in Situationen erlebt, in denen ich schnell eine Entscheidung treffen musste, die alle Anwesenden betraf. Das war nie einfach. Dabei mussten unzählige Dinge abgewogen werden. Nicht immer gelingt es dabei, alles richtig zu machen. Manchmal helfen aber solche Erfahrungen, den eigenen Blick zu schärfen, wofür man einsteht und was man erreichen möchte.

(Vielleicht hätte ich nach dem Vortrag von Prof. Dr. Sander die noch ausstehenden Referent:innen und Teilnehmer:innen gefragt, ob wir in einen offenen Austausch gehen, in Gruppen und im Plenum. Damit eine wesentliche Debatte geführt werden kann, von und mit den Lehrkräften, die diese morgen in ihrer Schule mit ihren Klassen, ihrem Kollegium und den Eltern ihrer Schüler:innen führen. Das ist aber hinterher immer einfach gesagt.) 

Was kann Schule leisten?

Die Realität, auf deren Grundlage Herausforderungen der politischen Bildung bzw. Demokratiebildung für Gesellschaft und Schule diskutiert werden, zeichnet ein gegenteiliges Bild zu den oben erläuterten Ausführungen der Tagung. Junge Menschen erfahren Rassismus, werden institutionell diskriminiert und Lehrkräfte müssen mit Literatur arbeiten, die Rassismus reproduziert und Menschen verletzt. Ein zentrales Problem dabei ist, dass Diskriminierungen von zu vielen Menschen nicht gesehen und erkannt werden. (Weshalb Dominik Lucha u.a. diesen Instagram-Account zu Alltagsrassismus erstellt hat.)

Natürlich steigt in einer sich ständig wandelnden Gesellschaft der Wunsch, aber auch die Notwendigkeit nach Veränderungen. Das betrifft ebenfalls demokratische Strukturen und Prozesse, die an manchen Stellen immer weniger bis gar nicht mehr funktionieren. Für Menschen, die dabei einen Machtverlust befürchten, müssen Forderungen nach Gleichberechtigung, Mitsprache und Mitbestimmung wie eine große Gefahr wirken. Da Schulen an sich einen Raum und ein Konzept darstellen, in dem die Macht klar und hierarchisch angelegt ist, wirkt jede Bemühung nach mehr Beteiligung junger Menschen dem System entgegen und erfährt Widerstand. 

Trotz mancher ungünstiger Bedingung machen sich (meiner beruflichen Erfahrung nach) immer mehr Schulleitungen und Lehrkräfte auf den Weg, weil sie im Kontext der globalen Krisen eine demokratische Verantwortung sehen und annehmen. Sie möchten jungen Menschen an ihrer Schule ermöglichen, dass sie mehr Demokratie erfahren, (er)leben können. Das gelingt besonders gut, wenn alle am Schulleben Beteiligten partizipieren können, ein wirksamer und nachhaltiger Prozess angegangen (was am Ende auf eine Frage der Ressourcen und Priorität hinausläuft), von möglichst vielen getragen und von einer diversen Gruppe koordiniert wird.

Im Ethikunterricht diskutieren wir viel über komplexe gesellschaftliche Themen, über die öffentlich kontrovers gestritten wird. Die Schüler:innen sind dabei entweder gut informiert oder interessiert, Neues zu lernen und andere Perspektiven zu erfahren. Der Konsens im Raum lautet: Wir wissen, nicht immer alles richtig zu machen, benennen offen Probleme, suchen gemeinsam nach Lösungen, gestehen Fehler ein, entschuldigen uns und arbeiten zusammen daran, es für alle besser zu machen. Das gilt für alle Schüler:innen, wie auch für mich als Lehrkraft. 

So ein beschriebener Aushandlungsraum erfordert ein Umdenken und einen Rollenwandel bei allen Beteiligten und kostet viel Zeit, Kraft und gegenseitiges Vertrauen. Es ist meiner Erfahrung nach aber ein wirksamer Ansatz, wie junge Menschen lernen, Verantwortung zu übernehmen, Probleme zu lösen, sich als selbstwirksam erfahren, konstruktiv miteinander streiten und einen Konsens aushandeln lernen. Demokratie ist kein Endzustand, sondern muss immer wieder neu erkämpft werden. Was junge Menschen dazu in der Schule lernen, wird die zukünftige Gesellschaft prägen.

False Balance ist ein Phänomen, das in der Pandemie gesellschaftliche Debatten erschwert, politische Entscheidungen geprägt und Beziehungen stark belastet hat. Die Behauptung, die Pandemie sei wie eine Grippewelle einzuordnen, hält sich in manchen Kreisen heute noch hartnäckig und ist nur eines der vielen Beispiele. False Balance ist ein Resultat einer medialen Verzerrung im Rahmen von Wissenschaftsjournalismus. Indem eine klare Minderheitenmeinung unverhältnismäßig viel bzw. den gleichen medialen Raum erhält wie der breite wissenschaftliche Konsens, entsteht in der Öffentlichkeit der Eindruck, es handle sich um zwei gleichwertige Meinungen. Vor kurzem hat das dieser User bei Twitter mit dieser Grafik sehr gut visualisiert.

Damit fasste er die Aussagen von Christian Drosten aus diesem Interview im Online-Magazin Republik und dem etwas älteren Ausschnitt zur Klimadebatte aus der satirischen News-Show Last Week Tonight with John Oliver zusammen.

Am Last Week Tonight-Beispiel wird deutlich, dass False Balancing keine Erfindung der Pandemie ist und dass dieses Phänomen bei der Berichterstattung in TV und Presse über die Klimakrise und damit in ihrer öffentlichen Wahrnehmung schon lange eine wesentliche Rolle spielt. Was aber in der Pandemie nochmal deutlich wurde, ist, welche Bedeutung Social Media dabei haben (können) und zunehmend übernehmen. Dass False Balancing in verschiedenen Formaten im Fernsehen oder Print immer wieder auftritt, liegt u.a. an redaktionellen Entscheidungen, die aus aufmerksamkeits-/ökonomischen Gründen dem Konzept der Polarisierung folgen und gerne als neutrale oder ausgewogene Pro- und Kontra-Berichterstattung begründet werden. Ausgewogenheit ist grundsätzlich ein Qualitätsmerkmal von Berichterstattung – sie wird jedoch zu einem Problem, wenn eindeutige Sachverhalte so dargestellt werden, als gäbe es zwei gleichwertige Ansichten dazu. 

Seit der (digitalen) Transformation des medialen und öffentlichen Raums durch das Netz, nutzen und prägen auch immer mehr Redaktionen aktiv und passiv diese gewandelten Strukturen und Mechanismen des öffentlichen Diskurses. Die Beweggründe sind dabei unverändert geblieben, die Dynamiken nicht. Hinzu kommt nun, dass durch Social Media jede Person eine Möglichkeit erhalten hat, False Balancing zu betreiben. Mit dem Unterschied, dass zu den bereits genannten Absichten auch ideologische und politische Strategien hinzukommen können. Das können Verschwörungsideologien oder politische Motive einer Gruppierung sein. Die Tragweite der gesellschaftlichen Auswirkungen lässt sich am Beispiel der Querdenker:innen während der Pandemie verdeutlichen.

False Balancing ist auf digitalen Plattformen zu einer Waffe geworden: Wo auch immer klare Zusammenhänge aufgeweicht werden sollen, wo wissenschaftlichen Einsichten die Legitimation entzogen werden soll, dort bietet es sich an, so zu tun, als gäbe es tatsächlich zwei (gleichwertige) Seiten. Abwegige und verwerfliche Positionen können als wichtige Kritik an einem »Mainstream« präsentiert werden, ihre Verbreitung als Bemühung, Ausgewogenheit in den Diskurs einzuführen. 

Fatal ist nun, dass Ausgewogenheit als Aspekt eines fairen Journalismus, False Balancing als falsch verstandene Ausgewogenheit in problematischen redaktionellen Formaten und Weaponized False Balancing als Desinformationsstrategie einander gegenseitig beeinflussen. Wenn Bewegungen auf digitalen Plattformen Pseudo-Expert*innen aufbauen, wissenschaftliche Einsichten kritisieren oder Meinungen viel Gewicht geben, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Medien diese Äußerungen aufgreifen, um ausgewogen zu berichten – und dass dann so ein wissenschaftlicher Konsens so dargestellt wird, als handelte es sich um umstrittene Fragen. 
Diese bewusste Strategie, False Balancing als Verfahren der Desinformation einzusetzen, ist mit einer ganzen Reihe anderer Methoden verbunden: Dazu gehören die Darstellung von Expertise als Meinung (der dann leicht eine andere Meinung gegenübergestellt werden kann), das Starkmachen von Pseudo-Expert:innen und die Vereinfachung oder unerfüllbar hohe Erwartungen an wissenschaftliche Expertise (wenn z.B. erwartet wird, dass Fachpersonen genaue Voraussagen machen können).

Das vorliegende und fehlende (Fach-)Wissen zu einem Thema verstärkt False Balancing. Wenn 99% der Wissenschaftler:innen einen Sachverhalt beschreiben, dem 1% widerspricht und beide Seiten mit jeweils einer Person einen medialen Raum erhalten, ist das ein Problem. Kann die eine widersprechende Person aber deutlich weniger Wissen zum Thema vorweisen, wird die Verzerrung zusätzlich verstärkt. In Anlehnung an die erste Grafik habe ich hier versucht, das ähnlich für den Social Media-Raum zu visualisieren.

Das Ganze mündet absurderweise mittlerweile darin, dass auch Fakten in TV- und Zeitungsformaten zur Debatte gestellt und Meinungen von Menschen eingeholt und prominent wiedergegeben, die über wenig bis keine Fachexpertise verfügen. Die Leugnung der Klimakrise ist eines der Ergebnisse davon. So wird das Abbilden von Meinungen zur medialen (und journalistischen) Maxime, was auch die Social Media-Nutzung mit beeinflusst. Dass vermehrt in Social Media, in denen eine redaktionelle Prüfung entfällt, auch physikalische Gesetze in Frage gestellt werden und Jürgen aus Bottrop glaubt, der nächste Kopernikus zu sein, dessen Genie verkannt wird, ist vielleicht kein Zufall. Und dass die Einordnung, wer im Netz Beiträge veröffentlicht, wie seriös das ist und welche Expertise vorliegt, etwas ist, das zu viele Menschen immer noch nicht beherrschen, erschwert die Lage.

Abschließend bleiben die Wünsche, dass möglichst viele Menschen für das Phänomen False Balance sensibilisiert werden, es nicht auf ihren Social Media-Accounts praktizieren bzw. darüber teilen, es im Unterricht thematisiert wird und dass Fakten als solche behandelt werden und nicht für aufmerksamkeits-/ökonomische Zwecke medial missbraucht werden.