In den letzten Jahren gab es immer wieder Versuche, neue soziale Netzwerke auf dem Markt zu etablieren. Meist waren es doch nur leicht gewandelte Kopien von bestehenden Social Media-Plattformen, die kurz in aller Munde waren, um danach wieder in der Versenkung zu verschwinden. Gestern habe ich zum ersten Mal von Clubhouse gelesen, es direkt getestet und denke, dass es ein enormes Potenzial hat, vielen im Netz ein neues Zuhause zu bieten. Die wichtigsten Fakten hat das t3n Magazin hier gut zusammengefasst. Was die App leisten kann (und wird), habe ich gestern mit über 80 Personen in einem Clubhouse-Raum diskutiert und möchte die Ideen, Perspektiven und Fragen in diesem Beitrag teilen.

(Normalerweise würde ich zu den Ideen und Anregungen die Personen nennen, von denen sie stammen. Da Referentialität (und Gemeinschaftlichkeit) ein wesentliches Merkmal der Kultur der Digitalität darstellt. Weil aber eine der Nutzungsbedingungen lautet, dass Informationen, die im Clubhouse erhalten werden, nicht ohne vorherige Genehmigung aufgeschrieben, aufgezeichnet oder anderweitig vervielfältigt und/oder weitergegeben werden dürfen, verzichte ich auf die namentliche Nennungen, beschränke mich auf allgemeine Gedanken und verweise darauf, dass der Beitrag ein Produkt der gestrigen Gruppe und Unterhaltung ist und hoffe, dass das nicht als Verstoß gegen ihre Regeln gewertet wird, was zum Ausschluss führen kann.)

Was zeichnet Clubhouse aus?

Eigentlich wollte ich gestern Abend nur kurz einen Raum öffnen, um mit zwei Freunden die Frage Was kann (und wird) Clubhaus leisten? zu diskutieren. Keine Stunde später tauschte sich aber dort ein bunter Haufen aus knapp 90 Leuten darüber aus, welche Funktionen, Wirkungen und Anwendungen jetzt schon zu beobachten sind. Netzpioniere und bekannte Größen der digitalen Szene und netzaffine Menschen aus unterschiedlichen Arbeitsfeldern trafen aufeinander, um ihre Erfahrungen und Sichtweisen zu teilen. Wie spannend und mitreißend das war, belegt der Punkt, dass ich mich um kurz nach 2 Uhr nachts noch von knapp 70 Personen verabschiedete. 

Der Moment

Dass gestern Nacht noch so viele, so lange dabeigeblieben sind, lag u.a. am besonderen Moment, der sich ergab und die Anwesenden spüren konnten. Zu einem bestimmten Zeitpunkt, fand aus verschiedenen Gründen (überschaubare Anzahl an deutschsprachigen Räumen und User:innen, Uhrzeit, Bekanntschaften usw.) eine diverse Gruppe an Menschen zueinander, die neugierig, offen und netzerprobt war, dass eine spannende und mitreißende Diskussion, wie ich sie bisher sonst nur in Präsenz erlebt habe, stattfinden konnte. Ohne Moderation! Es wurde sich gegenseitig sehr aufmerksam, empathisch zugehört (wer nicht sprach, hat sich gleich gemutet) und aufeinander eingegangen.

Was man von anderen sozialen Netzwerken kennt, die Timeline zu aktualisieren, sich die nächste Story oder nur noch ein TikTok-Video anzusehen, in der Erwartung, als nächstes etwas Neues, Wichtiges, Unterhaltsames oder Spannendes zu erfahren und das nicht verpassen zu wollen, kann bei Clubhouse durch den Moment ausgelöst werden. Der Moment, bekannte Personen zu treffen und reden zu hören, selbst gehört und wahrgenommen zu werden oder einfach eine ungeplante und besondere Gruppen-Konstellation zu erleben, die bereichernd ist. Allen im Raum war gestern klar, dass diese Truppe, in der Zusammensetzung, aber auch die entstandene Atmosphäre, sich nicht wieder rekonstruieren lassen.

Die Stimme

Twitter zeichnete die Reduktion von Texten auf anfangs 140 Zeichen aus, sprach dadurch bestimmte Menschen an und entwickelte sich zu einem speziellen Personenkreis mit einer „eigener“ Kultur. Mit Clubhouse wird erstmalig in einem sozialen Netzwerk die Stimme in den Mittelpunkt gestellt und werden Bilder, die in den letzten Jahren auf allen Social Media-Plattformen und Messenger-Diensten zunehmend in den Vordergrund gerückt sind, bis auf das Profilbild vernachlässigt. So wird eine andere Wahrnehmung der charakteristischen Eigenschaften von Personen ermöglicht. Durch den Einsatz der Stimme lassen sich Nuancen heraushören und Absichten oder Stimmungslagen (teilweise genauer) abbilden. Sie kann einen anderen, persönlicheren Zugang ermöglichen, Nähe und Vertrauen aufbauen und eine besonderes Ambiente schaffen.

Die Nähe 

Neben der persönlichen Nähe wird sicher auch ein Reiz von Clubhouse darin liegen, „Stars“ oder bekannten Personen näher zu kommen, zu wissen, dass man sich mit ihnen zur gleichen Zeit im gleichen Raum befindet. Vielleicht sogar die Gelegenheit erhält, sich am Gespräch zu beteiigen. In den nächsten Tagen und Wochen wird die Anzahl prominenter Personen enorm steigen und sich für viele sicher die eine oder andere Gelegenheit ergeben, jemanden live zu erleben. Das Setting mit den verschieden Rollen, in der man eine Bühne hat und bestimmen kann, wer mitsprechen und wer (nur) zuhören darf, wird aber sicher dieses Angebot der Nähe verankern und einen exklusiven Rahmen bestehen lassen.

Die Exklusivität 

Da einige Expert:innen aus der digitalen Szene den Weg zu Clubhouse beschritten haben und erst mal testen, was möglich ist und sich mitteilen, entstehen exklusive Angebote, die so in anderen sozialen Netzwerken oder auch in Präsenz entweder nicht zu finden sind oder viel Geld kosten würden. Die Experimentierphase, in der sich viele gerade befinden, wird sich sicher wieder legen und die Anzahl der aktuell zufälligen Angebote abnehmen. Die Exklusivität wird aber als Rahmen bleiben. (Diese aktuelle Begrenzung der Mitglieder, die durch die Hürde der Einladung durch andere oder iOS geschaffen wird, erzeugt nicht nur Exklusivität, sondern ist wahrscheinlich die wirksamste und kostenfreie Werbung, die man überhaupt erreichen kann. Was dieser Beitrag selbst auch belegt.) 

„Was im Clubhouse ge- und besprochen wird, bleibt im Clubhouse.“ So in etwa lautet eine stark vereinfachte Regel der Nutzungsbedingungen, auf die ich mich auch zu Beginn bezog. Es nicht gewünscht, dass etwas aufgezeichnet oder bestehend bleibender Content irgendwo angeheftet wird. So lebt der Austausch vom exklusiven Moment. Wobei es scheinbar Räume geben soll, in denen vorab allen kommuniziert wird, dass aufgezeichnet wird. Die Transparenz, ob und wann etwas aufgezeichnet wird, spielt aber auch für Teilnehme eine wesentliche Rolle, wenn es um Vertrauen geht und die Bereitschaft, sich zu öffnen oder die Entscheidung, welche Einblicke man anderen gewähren möchte.

Die Dynamik

Was beispielsweise bei Tweets durch einen Retweet  oder in anderen sozialen Netzwerken durch das Teilen eines Beitrags von einem Account mit großer Reichweite an Aufmerksamkeit erreicht werden kann, kann bei Clubhouse durch das Betreten von Räumen (großer Accounts) erfolgen. So können sich Räume und ihre Nutzung schlagartig in eine völlig andere Richtung entwickeln. (Ich schätze, dass hier die (Möglichkeit der) Benachrichtigungen der Followerschaft, wo sich Person x befindet und was sie gerade macht, noch stärker ausgebaut werden wird.) Dass andere Mitglieder nicht angeschrieben werden können, zwingt zu einem Gespräch in einem Raum. Bin gespannt, wie lange es braucht und ob es gelingt, dass sich viele dieser neuen Logik beugen und statt auf Messenger-Dienste auszuweichen, schnell einen privaten Raum für eine Klärung öffnen.

Welches Potenzial steckt dahinter?

Aus Fehlern lernen

Dieses Gefühl, dass gerade etwas Neues und Wertvolles entstehen könnte, führte auch zu (aus meiner Sicht) einer zentralen Frage der gestrigen Diskussion: Wie könnte man das Wissen und die Erfahrungen von anderen sozialen Netzwerken nutzen, um es dieses Mal von Anfang an richtig oder zumindest besser zu machen? Welche Erkenntnisse hier berücksichtigt werden müssen und wie diese übersetzt und angewandt werden können, scheint aus meiner Sicht eine der spannendsten Aufgaben, aber auch größten Herausforderungen der nächsten Monate zu sein. (Heute lade ich übrigens im 20 Uhr in einem Raum zu einem Austausch zu dieser Frage ein, falls ihr das gerade lest und auch bei Clubhouse seid.)

Neuer Raum für Kulturschaffende 

Eine Idee und Vorstellung, die immer wieder fiel, wie Clubhouse genutzt werden könnte, war als Live-Podcast. Das können dann gesetzte Themen und Termine sein (man kann Räume mit Titel und Beschreibung in einem Kalender ankündigen) oder spontane und offene Sessions, die ein Publikum vor Ort bestimmt und mitgestaltet. Es könnte auch gut sein, dass hier Möglichkeiten der Aufzeichnung geschaffen werden, um die Podcast-Szene zu binden und die Attraktivität von Clubhouse zu sichern. Eine Person berichtete von einer Musical-Performance, die sie bereits erleben durfte, bei der die Profilbilder die Köpfen der Figuren abbildeten und die Accounts je nach Szene ihren Part sangen. (Ein paar Blicke in die amerikanischen Räume, die es schon länger gibt, lassen erahnen, welche kreativen Nutzungsmöglichkeiten sich hier eröffnen.)

Ich erhielt gestern das Angebot, Musik abspielen zu können und habe erfahren, dass damit bei ausgewählten Accounts in der aktuellen Betaphase die Übertragung der Tonqualität verbessert wird. So können diese das dafür nutzen, um beispielsweise eigene Songs einem Publikum vorzustellen. Bin gespannt, wie und wie viele Künstler:innen diese Live-Bühne in Anspruch nehmen werden.  

Politik und Journalismus

Von der kommunalen bis zur europäischen oder sogar globalen Ebene, können Politiker:innen, Aktivist:innen, aber auch Journalist:innen mit einem Klick eine völlig neue Bühne, Aufmerksamkeit und Partizipation erzielen. Clubhouse kann wie ein interaktives Radio genutzt werden und erfordert keine Organisation von Räumen, Technik, Catering, Pressemitteilungen, Einladungen oder sonstiger Arbeit. Dass im Vergleich zu den bisherigen klassischen Formaten, wie bei Facebook-, Insta-Live und anderen Plattformen alles ohne Bildübertragung auskommt, sehr gezielt Einzelne hinzugenommen oder Gruppen gebildet werden können, erscheint sehr attraktiv.  

Gestern war ich z.B. in einem Raum mit einem der ersten deutschen Bundestagsabgeordneten bei Clubhouse (vielleicht sogar der erste). Diese Gelegenheit des direkten Gesprächs haben sich einige nicht entgehen lassen und kam sehr gut an. Mit dem Superwahljahr 2021 hat diese App in Deutschland zumindest einen sehr günstigen Zeitpunkt erwischt. Aber auch unabhängig davon bietet Clubhouse neue Formen des Bürger:innendialogs, die an vielen Stellen gefordert bzw. vermisst werden. Gerade im kommunalen Kontext, wenn Ehrenamtlichen oft Ressourcen fehlen, Menschen zu erreichen und einzubinden, könnte das sehr wertvoll sein.

Das größte Barcamp der Welt

Jede Person kann einen eigenen Raum öffnen und mit einem Thema belegen. Andere können beitreten, sich zu Wort melden, sich einbringen oder einfach wieder den Raum verlassen. Alle bestimmen jederzeit, wo sie sich mit wem und worüber unterhalten. Clubhouse ist (aktuell) ein globales und nie endendes Barcamp. Zumindest kann es das sein, wenn die Person, die einen Raum erstellt, es wie eine Barcamp-Session moderiert, alle sich gleichermaßen beteiligen lässt und die Teilgebenden diese Idee kennen und teilen. (Das hat unsere Runde letzte Nacht wahrscheinlich auch ausgezeichnet. Ich hoffe, dass möglichst viel von diesem Spirit erhalten bleibt und nicht irgendwann exklusive Räume und Podien dominieren.)

Fazit

Clubhouse bietet etwas Neues. Natürlich wurden in der Gruppe auch manche Aspekte kritisch betrachtet und bewertet. Angefangen beim Thema Umgang mit Daten bis hin zum Missbrauch von Vertrauen, wenn konkrete Informationen, die nur für einen Raum gedacht waren, nach außen (verzerrend oder falsch) kommuniziert werden. Da Dystopien sicher nicht lange auf sich warten lassen werden und ich mich in Zeiten von Covid-19 stärker bemühe, das zu teilen, das eventuell anderen helfen könnte, habe ich mich in diesem Beitrag auf die Potenziale konzentriert. Es waren aber auch einfach gefühlt zu viele und ähnliche digitalen Events und Formate in 2020, die zu einer Sättigung geführt haben. Mit Clubhouse ist die Neugier für einen digitalen Raum zurückgekehrt. Es wird wieder gemeinsam experimentiert und entdeckt. Ich habe gestern einige Menschen kennengelernt, die ich sonst nie getroffen hätte und so viele gute Gedanken mitgenommen, dass ich lange nicht einschlafen konnte. Diese Bereicherung wünsche ich allen und freue mich auf das Gespräch mit euch bei Clubhouse.

Beiträge, die ich als Kolumnist für das Deutsche Schulportal verfasse, veröffentliche ich drei Wochen später auf diesem Blog, um meine Texte auf einer Website gebündelt zu haben.

In den letzten Wochen haben viele Lehrerinnen und Lehrer nicht nur den Weg ins Internet gefunden, sondern auch jede Menge Beiträge entdeckt, die ihnen erklären, was technisch möglich, didaktisch sinnvoll oder pädagogisch angebracht wäre. Diese Vielfalt an Angeboten ist das Ergebnis einer Kultur des Teilens, die das Netz auszeichnet. Vielleicht führt die aktuelle Situation dazu, dass diese Kultur auch in den Schulen ankommt.

Was zeichnet die Kultur des Teilens aus?

photo-1569437061233-5befcf96ee45Die Kultur des Teilens ist etwas, das sich im Netz beobachten und erleben lässt, weil das Netz auf der Grundidee basiert, Informationen und Wissen für alle transparent und zugänglich zu machen. Es geht nicht nur darum, Material mit anderen zu teilen oder auf Personen zu verweisen, die über eine Expertise verfügen. Eine Kultur des Teilens bedeutet auch, Ideen, Prozesse und Ansätze, die gut funktionieren oder auch gescheitert sind, zu kommunizieren. So können Lösungen gemeinsam entwickelt und Fehler vermieden werden.

Die Kultur des Teilens setzt auf kollektive Intelligenz und eine kontroverse öffentliche Debatte, um Wissen zu vertiefen und Vorgehensweisen auszuhandeln. Dafür braucht es nicht-hierarchische Strukturen und diverse Möglichkeiten der Beteiligung. Auch Offenheit ist ein wesentliches Element. Das spiegelt sich in Bezeichnungen wie Open Educational Resources (OER), Open Access oder Open Data wider, die hinter der Kultur des Teilens im Bildungsbereich stehen.

Was sind die Voraussetzungen für die Kultur des Teilens?

Die Kultur des Teilens erfordert eine gewisse Haltung. Wer Zeit und Kraft in eine Sache investiert hat und andere im Netz daran teilhaben lassen möchte, versteht Wissen nicht als sein Eigentum, sondern als Nährboden einer Gesellschaft. Dabei wird auch ein Kontrollverlust in Kauf genommen, weil unklar ist, was mit dem Geteilten geschieht. Gleichzeitig wird darauf vertraut, dass das geteilte Wissen einem selbst oder anderen hilft.

Vom Netz in die Schule

Was würde das für Schulen bedeuten, wenn die Kultur des Teilens dort Einzug halten würde? Schulen wären vielleicht ein offenerer Lernort, an dem Wissen nicht für Noten oder Zeugnisse erworben werden würde. Fehler hätten hier einen ähnlich hohen Stellenwert wie Erfolge und würden als Lerngelegenheiten verstanden. Außerdem wäre vielleicht transparenter, woher eine Idee stammt, wohin sie sich entwickelt hat oder wer in welcher Weise daran beteiligt war. Eine Kultur des Teilens in den Schulen bedeutete auch den Abschied von der Einbahnstraßen-Kommunikation.

Ideen und Projekte würden schon von Beginn an geteilt, damit sie von vielen anderen gemeinsam mitgedacht, korrigiert und weiterentwickelt werden können. Lernprodukte würden verstärkt die Klasse verlassen, indem sie den Weg ins Netz finden. Sie würden dadurch eine größere Wertschätzung erfahren und hätten die Chance, mehr Menschen zu erreichen, sie zu inspirieren und nicht nur von einer Lehrkraft bewertet zu werden. Wie viele gute Texte wurden wohl schon geschrieben, Videos erstellt, Bilder gemalt oder Theaterstücke produziert, die einen größeren Raum als die Schule verdienen?

Lehren aus der Schulschließung

Es gibt sicher einige Lehren, die aus den Wochen nach der Schulschließung gezogen werden können. Eine wesentliche ist, dass gemeinsam nicht nur alles besser gelingt, sondern das Miteinander auch notwendig ist. Die Herausforderungen der veränderten Kommunikation, die unterschiedlichen Voraussetzungen zu Hause, aber auch die Gesamtbelastung an sich haben eine komplexe Situation geschaffen. Rückblickend wurden immer dort Erfolge erzielt, wo alle Beteiligten ihr Wissen einbringen konnten und die Zusammenarbeit stark war. In einer Kultur des Teilens stellt die Diversität eine Stärke und kein Problem dar. Diese Erkenntnis könnte Schulen positiv prägen.

IMG_8792Das Coronavirus hat mit der Schließung der Räumlichkeiten den Rahmen des Bildungssystems von heute auf morgen grundlegend verändert. Durch den Entfall des physischen Raumes und den Wandel der bisherigen Kommunikation wurde plötzlich eine völlig neue Ausgangslage geschaffen, in der viele Fragen aufgeworfen wurden und weitere täglich hinzukommen. Sie gewährte aber auch neue, ehrliche Einblicke, weil sie nun stärker über das Netz kommuniziert wurden. Nicht nur Ministerien haben über ihre Website und Social Media-Accounts informiert, auch Lehrer_innen, Schulleitungen, Eltern und Schüler_innen haben vermehrt ihr Wissen, ihre Erfahrungen und Erlebnisse im Netz, über Ländergrenzen hinweg öffentlich dokumentiert und diskutiert. Dieser Beitrag wirft einen Blick auf den Bildungsbereich in Zeiten der COVID-19-Pandemie und widmet sich den Erfahrungen der ersten Wochen und den Lehren, die für heute und morgen daraus gezogen werden könnten oder sollten.

Was hat sich bewährt?

Arbeitskultur

photo-1507925921958-8a62f3d1a50dIn den Gruppierungen, an denen vorher schon flache Hierarchien und Transparenz herrschten, viel miteinander kommuniziert und gemeinsam erarbeitet wurde, gelang es relativ schnell, Lösungen zu entwickeln, die für möglichst viele funktionieren. Diese wurden durch regelmäßige Reflexionsschleifen korrigiert und weiter optimiert. (Ein Ergebnis vorher erlernter, geübter bzw. gelebter Flexibilität und Offenheit kollaborativer Prozesse.) Es war innerhalb der Arbeitsgruppen wichtig, die Möglichkeit zu sehen, sich anderen Menschen anvertrauen zu können, dass man etwas nicht weiß, aber auch das Zutrauen zu erleben, sich in eine persönlich schwierige Thematik einarbeiten zu können. Die Arbeit und Verantwortung abzugeben (auch abgeben zu können), sie auf vielen Schultern zu verteilen und gemeinsam die Herausforderungen anzugehen, war schon immer und nun noch spürbarer von Vorteil. Das alles gilt natürlich für alle Zusammensetzung im Rahmen einer Schulkultur, also auch im Lehrer_in-Klasse-Setting. Weil viele Lehrende mit den zahlreich anfallenden Rückmeldungen (unter erschwerten Kommunikationsbedingungen) zu den erbrachten Schüler_innen-Leistungen zu kämpfen hatten, möchte ich auf die Möglichkeit hinweisen, junge Menschen beim Feedback zu beteiligen. Wer gegenseitiges Feedback mit Schüler_innen im regulären Unterricht eingeführt und etabliert hatte, konnte jetzt davon profitieren. 

Erlebnisräume

photo-1525015582196-5316b8a0afc9Die Stellen, an denen sich Menschen wirksam, gestaltend mit Digitalem oder/und im Netz erlebt haben, haben sie (durch eine gesteigerte Selbstwirksamkeitserwartung) nachhaltig geprägt. Allein an einer Videokonferenz (mit Ton und Bild) teilnehmen zu können, war für viele schon ein großer Erfolg. Der nächste Schritt, selbst eine anbieten zu können, setzte dadurch die Hürde deutlich herab und fand deshalb häufig statt. Das gelang meist am besten durch die Unterstützung von Personen, die sie bereits kannten und denen sie vertrauten. Aber auch niederschwellige und vielfältige Angebote waren und sind dabei ausschlaggebend. (Soziale Netzwerke sind zwar in der Vorstellung von Bildungskreisen nicht selten ein Ort, an dem ausschließlich Fake News und Hate Speech kommuniziert werden. Sie eignen sich aber auch, wie das aktuelle Beispiel der #gettymuseumchallenge, einen einfachen Zugang zu schaffen und auf einen vielfältigen Austausch hinzuweisen, neben den zahlreichen Informations- und Vernetzungsmöglichkeiten.) Ein Fazit lautet hier: möglichst viele Erlebnisräume zu schaffen bzw. Zugänge zu ihnen zu begünstigen. 

Lernräume

photo-1489702932289-406b7782113cEs wurden Aufgaben kopiert, gescannt, hochgeladen, gemailt oder mit der Post verschickt. Gut funktioniert hat es dort, wo selbständiges Lernen und das Aufteilen von größeren Aufgabenpaketen vorher schon erlernt worden waren, Eltern helfen konnten, die notwendige Kulturtechnik und das dazugehörige Wissen (wenn notwendig) vorlagen, eine erfolgreiche Kommunikation (technisch als auch menschlich) aufgebaut werden konnte oder schon vorher vorhanden war und die Lebensumstände Zuhause, wie z.B. räumliche Gegebenheiten, ein konzentriertes Lernen zuließen. Außerdem haben sich aufgrund der sehr unterschiedlichen Voraussetzungen beim Lernort Zuhause, asynchrone Lernprozesse bewährt, bei denen nicht eine Klasse zur gleichen Zeit, am gleichen Ort (Videokonferenz), die gleiche Aufgabe bewältigen muss, sondern Einzelne und Gruppen zeit- und ortsunabhängig, am besten noch mit unterschiedlichen, für sie günstigen, Möglichkeiten daran arbeiten können. 

Ich habe bei den Lernräumen bewusst von funktionieren gesprochen, weil meistens nach Lösungen gesucht wurde, die das Bisherige erhalten und aus Unterricht in der Schule eine digitale Fernlehre stricken sollten. Hier möchte ich zu dem Teil überleiten, der sich mit weit verbreiteten Annahmen beschäftigt, die es zu hinterfragen lohnt, wenn es darum geht, Lernen, Schule oder gar Bildung nun neu bzw. digital zu denken. Es sind einige dabei, die es auch schon vor der COVID-19-Pandemie gab, aber auch manche, die durch die aktuelle Lage entstanden sind.

Populäre Annahmen-Check

Strukturen und Prozesse mit Lernplattformen oder Lernmanagementsystemen digitalisieren

photo-1501023956373-055b874f2929Immer wenn Menschen, die die Kultur der Digitalität weder kennen noch verstanden haben, planen, sich digital bzw. „neu“ aufzustellen, werden meist nur die bereits bestehenden und vertrauten Strukturen und Prozesse ins Digitale übertragen, sprich digitalisiert. Die Tragweite, Notwendigkeiten und Möglichkeiten des kulturellen Wandels, hin zu einer Kultur der Digitalität, die Axel in diesem sehenswerten Vortrag sehr ausführlich herleitet und erklärt, werden dabei nicht berücksichtigt. Das Potenzial einer global vernetzen Welt besteht nicht darin, die Physische widerzuspiegeln, sondern an den unzähligen Optionen, Wissen zu erwerben, zu teilen, Menschen mit gemeinsam Interessen zu finden, sich zu vernetzen, Neues zu entdecken und kennenzulernen, interdisziplinär und multiperspektivisch an Ideen zu arbeiten, die Welt zu erfassen und zu gestalten. Wer also Lernplattformen oder Lernmanagementsysteme sucht oder entwickelt, sollte genau das im Blick behalten und sich fragen, was davon ermöglicht wird. 

Es muss jetzt alles ganz schnell gehen

photo-1476725994324-6f6833ea0631Viele Lehrer_innen, Schulleitungen, aber auch Politiker_innen haben sich seit dem Lockdown zum ersten Mal intensiver mit Digitalem auseinandergesetzt. Die Vorstellungen und Erwartungen, am besten alle Versäumnisse der letzten Jahrzehnte nun im Schnellverfahren nachzuholen, mag eine populäre Forderung oder Hoffnung sein, sie ist aber weder realistisch noch hilfreich (weil sie unnötig zusätzlichen Druck erzeugt). Das nötige Wissen und die Erfahrung haben sich Menschen im und mit dem Netz über eine jahrelange, vertiefte Auseinandersetzung erarbeitet. Diese Investition kann man niemandem abnehmen, aber muss sie alle gewähren. Das gilt sowohl für einzelne Personen als auch für Schulentwicklungsprozesse und die Bereiche und Ebenen darüber hinaus. 

Stützräder fürs Netz

photo-1565742672058-6c844f5afc2e„Die technischen Hürden sind schon groß genug. Da muss man den Leuten mundgerechte Häppchen servieren, damit sie sich (lieber/länger) mit dem Digitalen auseinandersetzen.“ Jein. Niederschwellige Angebote sind wichtig. Aber auch hier wird oft und gerne Wissensvermittlung mit Wissenserwerb verwechselt. Man lernt über das Entdecken, das selbst Herausfinden, Zerlegen und für sich neu Zusammensetzen. Deshalb funktionieren die vielen Listen mit digitalen Tools und Angeboten, die in der letzten Wochen und Tagen freundlicherweise erstellt und geteilt wurden, nicht immer und auch nur bedingt. Manchmal können sie sogar erschlagend wirken und überfordern, weil sie als endlose To-do-Liste verstanden werden. Diese Zusammenstellungen sind ein Produkt, ein Ergebnis eines Wissenserwerbes. Und da verhält es sich so wie mit Tafelbildern oder den zunehmend beliebten Sketchnotes. Sie funktionieren für einen selbst, aber nicht zwangsläufig für andere. Mit der Flut an Informationen und Angeboten des Internets zurechtzukommen und sich souverän und mündig im Netz zu bewegen, lernt man nur über das eigenständige Handeln. Wenn Lehrende zu Lernenden werden, müssen (und meiner Erfahrung nach wollen) natürlich auch sie ihre eigenen Listen erstellen. Gezielte Impulse und konkrete Unterstützung, wenn sie gefordert werden, helfen ihnen dabei. Hier möchte ich auf die sehr gelungene Video-Reihe von Philippe hinweisen.    

Die vermeintliche digitale Speerspitze

photo-1493612276216-ee3925520721Eine der größten Missverständnisse in der Debatte um Bildung in einer Kultur der Digitalität liegt meiner Meinung nach im Überschätzen der Expertise derer, die (sehr stark überspitzt) schon mal ein Tablet im Unterricht eingesetzt haben und das Unterschätzen der eigenen Expertise von Lehrenden, die bisher kaum bis keine (bewussten) Berührungspunkte mit Digitalem hatten. Das bezieht sich auf den Unterricht, die Schulentwicklung als auch alle anderen Bereiche. Das ist zum einen ein Resultat der zu starken Fokussierung auf die Technik und zum anderen das Ergebnis von pressewirksamen Inszenierungen von Leuchttürmen und Preisen. Es geht am Ende immer noch um Bildung, Schule und Lernen. Was sich durch die Digitale Transformation geändert hat, ist der gesellschaftliche Kontext, in dem das alles neu, transformiert stattfindet und gedacht werden muss. Vorhandenes technisches Wissen führt daher nicht zwangsläufig zum Vorsprung bezüglich zeitgemäßer Bildung, wenn der Kontext, das Gesamtbild dabei nicht betrachtet wurde. (Wenn überhaupt jemand in diesem komplexen gesellschaftlichen Prozess einen Vorteil haben sollte, dann sehe ich ihn bei Vertreter_innen der Reformpädagogik. Dort scheinen die Ansätze zu liegen, die für heute und morgen greifen und notwendig sind.)

Zuerst richtig rechnen und lesen lernen

Es ist eine populäre Vorstellung, dass zuerst das Alte, was und wie bisher gelehrt und gelernt wurde, sitzen müsse, um sich dann den neuen Herausforderungen zu widmen. Die Annahme hinkt insofern, weil sie davon ausgeht, dass wir weiterhin in einer reinen Buchdruckkultur leben und sie die Kultur der Digitalität wie eine Parallelwelt, der man optional beitreten kann oder nicht, behandelt und im schlimmsten Fall sogar ignoriert. Es geht (mir) dabei nicht um einen Vergleich, was zuerst gelernt werden muss, sondern eher um den Hinweis, dass sich auch das Bisherige mit verändert, transformiert, zusätzlich zum Neuen. Wie Menschen lesen, schreiben, kommunizieren verändert sich, und da gehören soziale Netzwerke und andere digitale Kanäle und Möglichkeiten nun mal mit dazu. Das muss in der Bildung (deutlich stärker) berücksichtigt werden bzw. sich abbilden.

photo-1431576901776-e539bd916ba2Durch die Pandemie sind die Herausforderungen einer global vernetzen Welt, die bisher nur in manchen Bereichen konkret spürbar waren, nun bei allen angekommen, weil sie auf einmal alle betreffen. Die Unbeständigkeit von sich permanent aktualisierenden Informationen, die unterschiedlichen Einschätzungen der Lage, die verschiedenen Expertisen und Perspektiven, die man liest, hört oder sieht und die Unsicherheit, die richtigen Entscheidungen zu treffen, für sich und andere, erinnert uns täglich an die zunehmende Komplexität dieser Welt und hat bei den meisten, wahrscheinlich sogar bei allen, zu einem gewissen Grad an Überforderung geführt. Und genau deshalb ist es so notwendig, dass junge Menschen endlich darauf vorbereitet und befähigt werden, in einer immer komplexeren Welt die „richtigen“ Entscheidung zu treffen, die in keinem Lösungsbuch stehen oder auch mit eigenen und fremden Fehlern umzugehen. Diese Komplexität wird nämlich nicht verschwinden – im Gegenteil. 

Bildung basiert heute noch größtenteils auf der Buchdruckkultur, in der Wissen durch (veraltete) Schulbücher, Kopiervorlagen oder Arbeitshefte meist als festgelegt gilt (und wirkt). Mit aktuellen Informationen und Erkenntnissen umzugehen, sie zu prüfen und einzuordnen, mag keine neue Herausforderung der Bildung sein. Nur nimmt sie zum einen in der Regel bisher keinen wesentlichen Teil des Lernens ein und zum anderen haben sich die Parameter durch die Kultur der Digitalität grundlegend gewandelt und wurden teilweise durch neue ergänzt. In den aktuell geführten Debatten hinsichtlich der COVID-19-Pandemie spielt das Verstehen und Prüfen der zahlreichen Studien, die in sozialen Netzwerken geteilt werden, das Einordnen von Online-Beiträgen, wie Texte von Webseiten, YouTube-Videos oder Screenshots, die über Instagram oder WhatsApp verbreitet werden, eine bedeutende Rolle. Oder das Reflektieren des eigenen Verhaltens, unter Berücksichtigung kognitiver Verzerrungen. Kultur findet vermehrt im Netz statt und gehört deshalb auch in Bildungsinstitutionen, und das nicht als Kopiervorlage. Denn während die Zeitung von morgen gedruckt wird, sind schon manche Daten überholt und im Netz korrigiert und zugänglich.

Möglichkeiten und Missverständnisse

Während in den letzen Tagen die Stimmen immer lauter wurden, dass Virologen und ihre Perspektive zu stark die gegenwärtigen politischen Entscheidungen beeinflussen würden und andere Blickwinkel vernachlässigt werden, verwies Angela Merkel in ihrer Ansprache vor Ostern nicht nur auf die kommende Studie der Leopoldina, sondern unterstrich auch deren Zusammensetzung. Dort tauschen sich Vertreter_innen aus nahezu allen Wissenschaftsbereichen aus. Denn nur in einer interdisziplinären Zusammenarbeit können gesellschaftlich getragene Lösungen für die komplexen Herausforderungen unserer Zeit entwickelt werden. Wo, wie und wie häufig findet das in Schulen und Hochschulen statt? Es wird zumindest klar, dass sich Lernorte und -prozesse öffnen und kollaborativ gestaltet werden müssen. Und das Projektlernen, wie es Lisa in diesem lesenswerten Beitrag beschreibt, im Bildungsbereich als ein Fundament etabliert gehört. 

photo-1581291518857-4e27b48ff24eVor kurzem hatte ich ein Video von Steve Jobs in meiner Social Media-Timeline, bei dem er sinngemäß erklärte, dass er sein Produkt nicht, wie es sonst in der Branche üblich wäre, von der Technik her gedacht hätte, sondern von der Person, die sie nutzt. Damit hatte er nicht nur einen wirtschaftlich außergewöhnlichen Erfolg, sondern trug auch maßgeblich zur digitalen Transformation und grundlegenden Veränderungen in allen Bereiche der Gesellschaft weltweit bei. Seitdem lässt mich der Gedanke nicht los, was wohl wäre, wenn dieser Ansatz beim Lernen ernsthaft verfolgt werden würde, wenn dabei vom Lernenden aus gedacht und die Bildung (von jungen Menschen) endlich als gesellschaftliches Kapital der Zukunft verstanden werden würde und Lernende im Mittelpunkt stünden. (Welche Lernplattformen, Lernmanagementsysteme und sonstige digitale Angebote wohl dann entwickelt werden würden?)

photo-1475137979732-b349acb6b7e3Welche Fragen stellen sich junge Menschen heute? Sie möchten die Welt begreifen, weshalb sich gerade alles so gravierend ändert, weshalb sie die Hände waschen oder Masken tragen sollen, weshalb ihre Eltern weniger oder kein Geld verdienen können, wie die finanziellen Probleme gelöst werden sollen, wann alles vorbei sein wird, ob alles überhaupt wieder so sein wird wie vorher, weshalb sie sich so fühlen, wie sie sich fühlen oder weshalb gewisse Freiheiten eingeschränkt werden und ob das alles notwendig ist. Es sind so viele Fragen, die sie sich stellen. Weshalb nicht genau da ansetzen? Weshalb nicht diese Fragen aufgreifen, sie mit ihnen gemeinsam angehen? Es sind nämlich naturwissenschaftliche, historische, politische, ethische und alle anderen Bereiche betreffende Fragen, anhand derer das, was in Bildungspläne ohnehin steht, erarbeitet werden könnte. Mit dem Unterschied, dass es persönlich sinnstiftende Aufgaben und authentische Probleme wären. Weshalb nicht dahingehend in den nächsten Wochen investieren und die Schüler_innen erfahren, spüren lassen, dass sie Teil der Gesellschaft sind, sie ernst genommen werden und werden müssen, weil auch ihren Handlungen Auswirkungen für andere haben? 

Die Lernenden in den Mittelpunkt zu stellen, bedeutet nicht nur, ihnen die Verantwortung für ihre Lernprozesse zu übertragen, sondern ihnen auch Freiheiten zu gewähren, diese zu gestalten. Dazu gehört sie dabei zu unterstützen, herauszufinden, wie ihnen das am besten gelingt. Das gilt übrigens auch für Schulleitungen, Lehrer_innen und andere am Schulleben Beteiligte, die in einem Schulentwicklungsprozess auch Lernende sind und dort ebenfalls mehr Freiheiten bräuchten. In der aktuellen Situation oder mit dem Blick auf die Tage vor der Schließung der Schulen sieht man diese Notwendigkeit vielleicht noch deutlicher. Wenn alle Schulen jede Mal darauf warten müssen bis an der obersten Spitze der Hierarchie des jeweiligen Bundeslandes beschlossen wird, was und wie sie umsetzen und kommunizieren sollen, bleibt am Ende nur noch ein überschaubarer Planungs- und Handlungsspielraum übrig.  

photo-1493946740644-2d8a1f1a6affEs ist die Perspektive der Lernenden, die in Bildungsdebatten so häufig untergeht. Grob überzeichnet bedeutet das: Die Politik blickt auf die Bildung und schielt auf die nächste Wahl, die Lehrenden blicken auf die Bildung und schielen zum nächsten Vorgesetzten und die Eltern blicken auf die Bildung und schielen auf den vermeintlich nächsten Job ihres Kindes. Vereint werden diese Perspektiven oft durch ein gemeinsames Bildungsverständnis bzw. Missverständnis, in dem das, was unter Bildung verstanden wird, über Wissensvermittlung erreicht wird. Es mag für einige nur ein Begriff sein, der mal mehr oder weniger bewusst verwendet wird. Es stecken aber ein klares Verständnis, ein Bild und eine Haltung dahinter: Die Lehrenden verfügen in diesem Setting über das zu vermittelnde Wissen, legen vorher den genauen Verlauf fest und wählen das Ergebnis, in der Annahme, Wissen sei eine Information, die nur auf dem richtigen Weg, in der adäquaten Dosis, am geeigneten Ort und zum passenden Zeitpunkt von ihnen zu Lernenden transportiert werden müsse. Und das jetzt alles in digital. Von Lernenden aus gedacht und umgesetzt, handelt es sich beim Lernen um einen Wissenserwerb, der in einem möglichst offenen, freien und persönlich sinnstiftenden Prozess abläuft. Hierbei helfen Lehrende, in dem sie dafür günstige Gelegenheiten schaffen, in denen möglichst selbständig und individuell Zusammenhänge erschlossen werden können. Das Lernen ist wirksam und nachhaltig, weil sich das erworbene Wissen dabei mit bestehendem verknüpft und das Gesamtverständnis prägt.

(In der aktuellen Lage profitieren die Kinder und Jugendlichen, die zum Wissenserwerb befähigt wurden. Die Vertreter_innen der Wissensvermittlung setz(t)en nun darauf, dass entweder Eltern die Aufgaben des Lehrenden übernehmen oder Schüler_innen schon so trainiert und willig sind, die Abläufe selbständig abzuspulen. )  

Blick in die Glaskugel 

photo-1502476698613-931a9afd2488Dass sich in den letzten Wochen schlagartig Lehrer_innen mit Digitalem auseinandergesetzt haben, lag an genau zwei Aspekten: dass sie es mussten und dass die Zeit dafür da war, sich einzuarbeiten. Dementsprechend ist eine entscheidende Variable bei allen Blicken in die Glaskugel die Dauer der Ausnahmezustandes. Je länger Schulen gezwungen sein werden, das Lehren und Lernen im und mit dem Internet zu denken, umso mehr werden sich die dabei entstandenen Ideen, Ansätze und Erfahrungen im späteren Schulalltag verstetigen und in den zukünftigen Entwicklungen niederschlagen. Der große und von einigen erhoffte Wandel wird unabhängig von der Dauer eher nicht zu erwarten zu sein. Jeder, der sich mit der Thematik schon länger beschäftigt, weiß auch, dass es sich hinsichtlich der Umsetzung zeitgemäßer Bildung u.a. um eine Frage der Strukturen, Ressourcen und Haltungen (besonders in Führungsebenen) handelt, die am Ende die entscheidenden Hebel darstellen, wenn es um grundlegende, nachhaltige Veränderungen geht.

Eine weitere Perspektive in dieser Rechnung ist auch der Verstärker-Effekt der Digitalisierung, den Jöran hier ausführlicher beschrieben hat. Die, die schon vorher einen großen Wert auf Anweisungen und Kontrolle gelegt haben, werden das mit digitalen Medien danach noch stärker können und wahrscheinlich praktizieren. Es werden aber auch die Personen, die sich vorher schon gerne informiert, ausgetauscht und vernetzt haben, das im und mit dem Netz noch stärker können und tun. Diese Gruppe kontinuierlich weiter wachsen zu lassen, Begegnungen und Möglichkeiten in digitalen und physischen Räume zu schaffen, ist und bleibt somit weiterhin die Aufgabe derer, die sich engagieren, Bildung in einer Kultur der Digitalität ankommen zu lassen. Auch nach Corona.