Beiträge, die ich als Kolumnist für das Deutsche Schulportal verfasse, veröffentliche ich drei Wochen später auf diesem Blog, um meine Texte auf einer Website gebündelt zu haben.

Vor einigen Jahren wurden digitale Plattformen im Bildungsbereich als zentraler Baustein und Lösung für „digitale Bildung“ propagiert. Durch den Fernunterricht aufgrund der Pandemie hat sich ihre Einführung und Nutzung in Deutschland in kurzer Zeit massiv gesteigert. Sie wurden seit dem vergangenen Jahr so intensiv wie noch nie in Schulen eingesetzt. Ein geeigneter Zeitpunkt, um auf diese Erfahrungen zurückzublicken, Entwicklungen zu betrachten und zu prüfen, welche Ziele mit den digitalen Plattformen bisher erreicht wurden.

Software wird im Bildungsbereich in der Regel von Erwachsenen für Erwachsene konzipiert. Junge Menschen werden bei der Entwicklung nicht beteiligt, sollen die Software aber später nutzen. Das wirkt sich bei den digitalen Produkten auf das gesamte Design aus. Ästhetik, Strukturen, Funktionen und Angebotscharakter werden so auf Bedarfe und Nutzung von Lehrkräften ausgerichtet. Und die der Schüler:innen werden, wenn überhaupt, nur aus der Sicht der Erwachsenen vermeintlich berücksichtigt. Das hat mehrere Konsequenzen.

Lernprozesse werden oft unverändert in den digitalen Raum übertragen

So ist zum Beispiel fraglich, wie erfolgreich die angestrebten Ziele mit dem Einsatz solcher Plattformen erreicht werden. Häufig werden Lernprozesse einfach digital abgebildet und aus dem physischen Klassenraum in den digitalen Raum übertragen. Digitale Plattformen sollen dabei für mehr Effizienz und Effektivität beim Lernmanagement, bei der Kommunikation und Verwaltung sorgen. Eine zentrale Frage bleibt bestehen: Werden auf diese Weise junge Menschen ausreichend auf eine Kultur der Digitalität vorbereitet und zur sozialen Teilhabe befähigt?

Der Begriff und die Beschreibung einer „Kultur der Digitalität“ entstammen dem gleichnamigen Buch von Felix Stalder von 2016. Darin nennt er Referentialität, Gemeinschaftlichkeit und Algorithmizität als wesentliche Merkmale dieser Kultur. Grob vereinfacht zusammengefasst: Mit „Referentialität“ sind digitale Bezüge, wie zum Beispiel Links und Hashtags, gemeint, mit „Gemeinschaftlichkeit“ die Entwicklung gemeinsamer Ideen, Fragen und Lösungen und mit „Algorithmizität“ Algorithmen, die erfassen und bestimmen, an welcher Stelle etwas wahrgenommen und angezeigt wird. Soziale Netzwerke funktionieren zum Beispiel nach diesen Prinzipien.

Das Agieren im Internet sorgt nicht automatisch für Medienkompetenz

Mit der Nutzung digitaler Plattformen wird bei Pädagog:innen gern die Vorstellung verbunden, dass „junge Menschen etwas im Internet machen“ und somit dieser Erfahrungs- und Lernraum in einer Kultur der Digitalität abgedeckt sei. Diese Annahme ist aber falsch. Die digitalen Plattformen aus dem Bildungsbereich ermöglichen oft nur eine intern-isolierte Kommunikation und sind nicht automatisch ein Teil der Kultur der Digitalität. So sind Beiträge zwar online, können aber nicht von außen wahrgenommen, referenziert und weiterentwickelt werden. Den Umgang mit einer digitalen Identität und die Fähigkeit, sich souverän im Netz zu bewegen, lernen junge Menschen auf diese Weise nicht.

Die Herausforderungen und Potenziale einer Kultur der Digitalität verdeutlichen, dass reformpädagogische Ansätze notwendig sind, bei denen Lernende im Mittelpunkt stehen und zu selbstständigem und eigenverantwortlichem Lernen befähigt werden. Wenn digitale Plattformen sich daran orientieren würden, müssten Schüler:innen bei ihrer Entwicklung beteiligt werden. Sie müssten mit der Plattform unterstützt und befähigt werden, eigene Lernprozesse zu initiieren, zu verstehen, zu verbessern, ihr Wissen mit anderen zu teilen und mit ihnen gemeinsam daran zu arbeiten, sich die Welt erschließen und sie mitgestalten zu können.

Digitale Plattformen müssen Jugendliche befähigen, ihr Lernen zu organisieren

Einen Ansatz, der in diese Richtung geht, verfolgt beispielsweise die Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft mit der Software „lernlog“. Hier wurden von Beginn an Schüler:innen in die Entwicklung der Software miteinbezogen, die sich aktuell in der Betaphase befindet. Dass es To-do-Listen geben soll, kam zum Beispiel von ihnen. „lernlog“ legt den Schwerpunkt auch nicht auf die Durchführung und Verwaltung von aufgabenbezogenem Lernen, wie die meisten anderen digitalen Plattformen, sondern auf die digitale Begleitung und Befähigung junger Menschen bei der Organisation ihres Lernens.

Wer digitale Plattformen im Bildungsbereich entwickelt oder einsetzt, sollte sich immer wieder fragen: Inwieweit werden überholte Strukturen und Prozesse einfach nur digitalisiert? Wem sollen sie nützen? Welche Ziele sollen mit ihnen erreicht werden? Auch wenn digitale Plattformen auf den ersten Blick als rein technische Herausforderungen erscheinen, besitzen sie eine kulturelle Dimension. Deshalb müssen sie stets Teil einer Antwort darauf sein, welche Lernkultur erreicht werden kann und muss.

Der Großteil der Gesellschaft ist (in allen Fachgebieten) auch 2021 mit Themen rund um Digitalität nicht ausreichend vertraut und betrachtet die Entwicklungen in diesem Bereich aus einer Außenperspektive. Aus diesem Blickwinkel entsteht immer häufiger der Eindruck, dass alle, die sich für Digitalität in der Bildung einsetzen, die gleichen unterstützenswerten Ziele haben und die gleichen Werte teilen. Doch dieser Eindruck täuscht. Neben dem gemeinsamen Wunsch nach Veränderung liegen erhebliche Unterschiede in den Bereichen der Ziele, der Werte und Normen, der legitimen Methoden und der fachlichen Expertise vor. Dass diese Unterschiede im öffentlichen Diskurs oft nicht wahrgenommen werden, führt zu (bildungs)politischen und gesellschaftlichen Problemen.

Das Gleiche

Der Konsens, der zwischen unterschiedlichen Akteur:innen im Bildungsdiskurs besteht, hat eine minimale Basis: die Ablehnung des Status quo und den Wunsch nach Veränderung – unter Einbezug digitaler Medien und Technologie. Doch diese gemeinsame Basis wird sofort verlassen, wenn man sich auf ein neues, konkretes und streitbares Bild verständigen muss. Jöran Muuß-Merholz erklärte mir vor kurzem in einem Gespräch (das diesen Abschnitt wesentlich prägt), dass er das an Begriffen festgemacht. Es gibt viele Leitbegriffe, wie Bildung für das 21. Jahrhundert oder zeitgemäße Bildung, die sich inhaltlich darüber definieren, einen anderen Zustand als zuvor erreichen zu wollen.

Dieses Phänomen, Ablehnung als Konsens, gibt es auch nicht nur in der Bildung, sondern findet sich in vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen. Wenn es an die Formulierung geht, wie wir es denn haben wollen, unterschied Jöran allgemeine Zielformulierungen von konkreten. Lernende in den Mittelpunkt zu stellen, Mündigkeit, Freiräume zu schaffen oder junge Menschen besser auf die Zukunft vorzubereiten, sind Aussagen, denen kein Mensch widersprechen würde. Wenn es aber um konkrete Veränderungen von Strukturen und Prozessen geht, wie z.B. die Auflösung von Fächern, ein gewandeltes Rollenbild von Lehrer:innen, ernsthafte Beteiligung von Schüler:innen oder die Abschaffung von Noten, gehen die Meinungen stark auseinander.

(Vor etwa vier Jahren beschloss ich, zukünftig zeitgemäße Bildung statt den damals populären Begriff Digitale Bildung zu verwenden. Rückblickend ist mir nun klar, weshalb ich damals dafür zuerst viel Gegenwind erntete, aber langfristig immer mehr Zustimmung erhielt. Die Punkte, mit denen ich die Begriffswahl in einem späteren Beitrag begründete, stehen eben für Ablehnung des Bisherigen und für allgemeine Ziele. Wer will schon eine unzeitgemäße Bildung? Über die Jahre hat der Scheinkonsens zeitgemäße Bildung zu einem Buzzword verkommen lassen, hinter dem die unterschiedlichsten Dinge subsumiert werden oder gar nichts, weil er wie ein Aufkleber verwendet wird.)

Werte und Ziele

Viele Menschen handhaben Digitalität wie Essen lange Zeit. Sie wird konsumiert, die Zusammensetzung, Prozesse und glokalen (global + kommunal) Zusammenhänge sind unbekannt oder uninteressant, weil alles am besten schnell gehen und günstig sein muss. Da sich die Erkenntnis, dass Essen mehr als Nahrungsaufnahme ist und aus ökologischer und ökonomischer Sicht gesellschaftlich kritische Voraussetzungen schafft, seit Jahren immer stärker durchsetzt, hoffe ich, dass die gleiche Einsicht zunehmend auch bei Digitalität erreicht werden kann. Für welche Werte wir einstehen und Ziele wir anstreben, spielt eine wesentliche Rolle, wenn es um konkrete Maßnahmen geht. 

Die Kultur der Digitalität ermöglicht ein freieres, gerechteres und solidarischeres Zusammenleben, aber auch ein überwachteres, undemokratischeres und ausbeutenderes. Im Bildungsbereich gibt es hier viele unterschiedliche Strömungen, die teilweise entgegensetzt zueinander stehen. Eine Gruppierung setzt sich z.B. für einen offenen Zugang zu Informationen, freie Lizenzen und eine gerechtere Bildung ein, lebt eine Kultur des Teilens und sammelt sich u.a. unter den Begriffen wie Open Access oder OER. Andere haben vor Jahren verstanden, dass auch der Bildungsmarkt beim Thema Digitalität steigende wirtschaftliche Möglichkeiten bietet und haben Geschäftsmodelle entwickelt, um von den Defiziten eines überholten Bildungssystems zu profitieren.

Auch an Veranstaltungen lässt sich erkennen, welche Werte und Ziele verfolgt werden. Auf der einen Seite gibt es offene, partizipative Formate, wie Barcamps, die von einer Community gestaltet werden und ihrer Beteiligung leben und die diese Kultur weit über die Veranstaltung hinaus verbreitet. Dem entgegengesetzt werden intransparente und hierarchisch geprägte Hochglanz-Events organisiert, die sich mit bedeutenden Namen schmücken und auf Pressewirksamkeit und Aufmerksamkeit setzen. 

Expert:innen

Vor einigen Tagen postete ich in sozialen Netzwerken eine dreistufige Anleitung, wie Personen auf einfache Weise zu Expert:innen bzw. als solche wahrgenommen werden können: 

1.) Erstelle eine Präsentation mit Slides, auf den jeweils KI, Algorithmen, Bitcoins, Daten, 4K, Transformation, AR, VR und Cyber steht.

2.) Suche diese Begriffe bei Twitter, wähle die Tweets mit den meisten Likes und lerne sie auswendig.

3.) Fertig. Expert:in für über 90% der Menschen.

Das war nur teilweise ein Scherz, weil viele Beiträge, die ich in den letzten Jahren erleben durfte, eine Vermutung und Rückschlüsse zulassen, dass einige Personen auf eine zumindest ähnliche Weise vorgehen. Auch die nächsten vier Schritte und Empfehlungen, die ich zwei Tage danach ergänzte, entspringen diesen Erfahrungen: 

1.) Erstelle eine eigene Website.

2.) Suche nach Beiträgen zu Themen rund um Digitalität, die viel geteilt und geliket wurden.

3.) Schreibe sie (mit Buzzwords) erneut, in eigenen Worten: Personal Branding.

4.) Fertig. Super-Expert:in für über 120% der Menschen.

So amüsant das auf den ersten Blick auch klingen mag, ist es gar nicht. Die Orientierung und Differenzierung bezüglich tatsächlich vorliegender Expertisen wird durch fehlende Referentialität (für ein Personal Branding) und den Missbrauch der Kultur des Teilens erschwert. Die Anzahl derer, die wegen Bildung und Digitalität den Weg ins Netz suchen und finden, um sich darüber zu informieren, auszutauschen und zu vernetzen, steigt jährlich. Damit steigt auch die Zahl derer, die nicht mehr den Ursprung von Gedanken und Texten kennen und eine vermeintliche Expertise anerkennen und reproduzieren. 

Schicke und wirkungsträchtige Websites kann man heute schnell und einfach erstellen (lassen). Und selbst wenn ursprüngliche Quellen genannt und verlinkt werden, kann allein durch die vermeintliche Akquise (auch hierfür kann jede Person, ohne großen Aufwand, populäre Themen und Beiträge im Netz ausfindig machen) und Sammlung für viele Menschen der Expert:innen-Anschein erweckt werden. So wird in einer Kultur der Digitalität aus einem Kleider machen Leute ein Webseiten machen Leute.

(Was Expertise rund um Digitalität bedeutet, ist an sich ein sehr komplexes und kontrovers diskutiertes Thema. Abonnentenzahlen, Follower und Klicks sind keine qualitativen Kriterien. Auch wenn die Orientierung daran seit Jahren im Journalismus, in der Politik oder anderen Bereichen zu beobachten ist. Dass Personen nicht am Diskurs im Netz teilnehmen oder ihnen nicht kennen, ist ein zuverlässiger Indikator, dass in ihrer bisherige Fachexpertise der sich wandelnde kulturelle Rahmen unbekannt ist und nicht berücksichtigt wird. Andersherum ist im Netz zu sein (und z.B. das Twitterlehrerzimmer und was dort geteilt wird, zu kennen), nicht zwangsläufig ein Beleg für eine Expertise.)

Folgen

Der bereits beschriebene Scheinkonsens, alle wollen das Gleiche, und die erschwerte Orientierung bei der Expertise sind der Nährboden für Digitalwashing. So können diverse Interessen auch erfolgreich digital ein- und verkleidet werden, ohne dass sie der große Teil des Publikums als das erkennt, was sie oft sind: Nämlich Initiativen, die weder gesellschaftliche Veränderungen anstoßen noch ermöglichen – im Gegenteil. Die daraus resultierenden Folgen können für Politik und Gesellschaft schwerwiegend sein, wenn beispielsweise notwendige Veränderungen hinausgezögert, gehemmt oder sogar verhindert werden. Diesen Gedanken möchte ich auch an ein paar Beispielen etwas ausführen.

Es gibt kein effektiveres, effizienteres und (presse)wirksameres Digitalwashing als Wettbewerbe. Man verleiht anderen eine Auszeichnung (in der Regel ist Aufmerksamkeit der Preis), sich selbst Deutungshoheit (und scheinbare Expertise) und erzeugt nach außen den Eindruck, etwas bewegt zu haben. Wenn man besonders geschickt ist, werden die Aktionen als Ehrenamt oder gesellschaftliches Engagement sprachlich gerahmt. Das schafft eine allgemeine Anerkennung, Solidarität und wirkt gleichzeitig auch präventiv gegenüber Kritiker:innen, weil (vermeintliches) Ehrenamt vielleicht ein Ziel verfehlen kann, aber gute Absichten der Antrieb sind und Kritik moralisch verwerflich erscheinen lässt.

Auch die oben angeführten Hochglanz-Veranstaltungen sind ein beliebtes Element von Digitalwashing, weil mit möglichst geringem Aufwand maximale Effekte erreicht werden können. Die vor wenigen Monaten gestartete Initiative Digitale Bildung der Bundesregierung ist ein Paradebeispiel für viele in diesem Beitrag aufgeführten Punkte. Exemplarisch möchte ich das an der Hochglanz-Veranstaltung am 27. April aufzeigen. Der Begriff Kulturwandel, der eine wie weiter oben beschriebene allgemeine Zielformulierung darstellt, wurde (als populär im Netz identifiziert und) prominent als Buzzword gewählt, um der Veranstaltung einen innovativen Anstrich zu verleihen.

Nichts, weder an der Veranstaltung noch an der Initiative, deutet auf einen Kulturwandel hin. Es herrschen viel Intransparenz auf verschiedenen Ebenen, hierarchische Exklusivität und schon lange fehlen Ansätze nötiger struktureller Veränderungen. Auch die Auswahl der Expert:innen passt in das Bild, das in diesem Beitrag skizziert wurde. So landete Lehrer Schmidt als Experte auf dem Podium, dessen Expertise darin besteht, Erklärvideos bei YouTube hochzuladen und knapp eine Million Abonnenten zu haben. Wer immer noch denkt, dass solche Beiträge auch nur ansatzweise etwas mit Innovation oder erstrebenswerten Lernen zu tun haben, dem empfehle ich Axel Krommers Text zur Schule als chinesischem Zimmer

Ein weiteres Beispiel ist Anika Buche, deren Expertise sich mir bis heute nicht erschließt, die aber ihr (gerne als “ehrenamtlich” geframtes) Projekt EduSense (eine Website, die Content von anderen sammelt und “kostenlos” zur Verfügung stellt) vorstellen durfte, das mehr Fragen aufwirft als Antworten liefert. Philippe Wampfler hat hier einige zusammengetragen und an EduSense gerichtet. Der aktuelle Stand ist, dass ein Sharepic gepostet wurde, auf dem steht, dass ihnen Transparenz wichtig sei. Die Fragen wurden aber immer noch nicht beantwortet. (Um ein Beispiel für authentisches Ehrenamt zu liefern: Die ZUM. Hier setzen sich seit über 20 Jahren viele Menschen für eine offene Lernkultur ein.) 

Die Werte und Ziele, die durch diese ausgewählte Runde dominant vertreten und kommuniziert wurden, waren nicht die einer offenen und bildungsgerechten Kultur, sondern kommerzieller Interessen. So wurde darüber gesprochen, dass Lehrer Schmidt Arbeitsblätter zu seinen Erklärvideos verkauft, man bei Sofatutor Nachhilfe erhalten und bezahlen kann und wie Finanzmodelle für Schulbuchverlage aussehen könnten. Dass OER, zu dem die Bundesregierung aktuell eine Strategie entwirft, mit keinem Wort in der Veranstaltung “Kulturwandel digitales Lernen” erwähnt wurde, war eine klare Botschaft. So wundert es auch nicht, dass vor wenigen Tagen 15 bekannte Bildungsanbieter gemeinsam in einem offenen Brief an das Bundesministerium für Bildung und Forschung und die Kultusministerkonferenz ihre Unterstützung und Zusammenarbeit beim milliardenschweren “Corona-Aufholpaket” angeboten haben.

Es geht nicht darum, dass Leute im Bildungsbereich kein Geld verdienen können sollen oder dass das verwerflich wäre. Vom Staat sollte man aber erwarten können, dass beim Thema Bildung staatliche Gelder in Strukturen, Prozesse fließen (müssen), die nicht kommerzielle Interessen in den Mittelpunkt stellen, sondern die der Lernenden verfolgen. Am besten in Angebote, die eine zeitgemäße und gerechte Bildung ermöglichen und nicht in die, die von Defiziten des Bildungssystems profitieren. Das Dilemma selbst der Politik, die ernsthaft etwas verändern möchte, ist auch, dass wie in allen anderen Bereichen, wenig bis keine Expertise bei digitalen Themen vorliegt und sie sich auf Einordnungen von Expert:innen verlassen müssen. 

So kommt es zu problematischen Entwicklungen in diesem Wettkampf um unterschiedliche und teilweise intransparente Interessen. Wer den Zugang zu den Entscheidungsebenen erhält, ist dabei eine zentrale Frage, deren Antwort über Werte und Ziele bestimmt. Ein letztes, konkretes Beispiel ist Max Maendler, der als Gründer von Lehrermarktplatz bei der Konsultation der OER-Strategie der Bundesregierung (bei der es auch um hohe Summen und Fördertöpfe geht) auch mit am Tisch saß und auf sein (Geschäfts-)Modell verwies, das nicht nur das Gegenteil von OER darstellt, sondern auch dieser Kultur entgegenwirkt.

Die Selbstinszenierung von Macher:innen, die sich mit vermeintlichen Erfolgsstories, wie z.B. dem Hackathon #WirFürSchule** schmücken und die Bildung retten werden, scheint zunehmend auf fruchtbaren Boden zu fallen. So wurde nun auch aus diesem Kreise der Zukunftsrat gegründet, der seine Ergebnisse der Kultusministerkonferenz präsentieren, die diese wiederum am besten in Gesetze gießen soll. (Ich wüsste übrigens nicht, was im ebenfalls geplanten „nationalen Curriculum“ stehen könnte, was nicht schon gesagt oder aufgeschrieben wurde. Allein im KMK-Papier »Bildung in der digitalen Welt« von 2016; wozu demnächst eine Ergänzung erscheinen wird.)

Wie werden welche Ziele im Bildungsbereich in einer Kultur der Digitalität angestrebt, erreicht, gehemmt oder verhindert? Dieser Beitrag soll auch denen, die mit der Materie nicht so vertraut sind, eine kritische Auseinandersetzung mit diesen Fragen erleichtern. Am Ende bleibt der Wunsch an die unterschiedlichen Entscheidungsebenen (von der Politik, über den Journalismus bis hin zur Verwaltung), sich zu befähigen, eine differenzierte Betrachtung und Einordnung der Akteure erzielen zu können. Mein Engagement verstehe ich verstärkt in dem Punkt u.a. darin, die Unterschiede deutlicher und transparenter zu kommunizieren.

Silver Linings

Falls Personen, die die Herausforderungen der Digitalen Transformation angehen und eine Kultur der Digitalität ermöglichen möchten, bis hierhin gelesen haben und sich nun fragen, was sie denn Konkretes tun können, um im Bildungsbereich nötige Veränderungen zu begünstigen und zu ermöglichen, schließe ich mit drei konkreten Empfehlungen ab:

Kommunale Netzwerke stärken

Kommunale Räume für Vernetzung und Austausch zu schaffen, ist eine der größten Notwendigkeiten, die gleichzeitig auch enorme Potenziale birgt, wenn es darum geht die komplexen Probleme unserer Zeit zu lösen. In diesem Beitrag führe ich die Idee etwas genauer aus und beschreibe auch wie und welche Veranstaltungen in diesem Kontext durchgeführt werden sollten.

In strukturelle Veränderungen investieren

Ohne grundlegende Veränderungen von Strukturen, die erst wirksame und nachhaltige Prozesse ermöglichen, bleibt alles nur Kosmetik und Strohfeuer. Deshalb ist jedes Engagement in diese Richtung gut investiert. Auch wenn diese Arbeit meist undankbar, langwierig und zäh ist. Es hilft deshalb sehr, hier stabile Netzwerke zu schaffen, die langfristig und genau gemeinsam daran arbeiten. 

Kultur des Teilens leben

Die Kultur des Teilens, die ich im Netz kennengelernt habe, hat meine Denk- und Arbeitsweise grundlegend (auch qualitativ) verändert. Ich kann mir nichts anderes mehr vorstellen. Die Wirksamkeit und Nachhaltigkeit ist hoch und der Preis dafür, dass Offenheit und Vertrauen (auf Referentialität) ab und zu missbraucht werden, gering.

**Persönliche Einordnung: Max Maendler und Verena Pausder erfassten und nutzten mit #WirFürSchule 2020 das Momentum, die Aufbruchsstimmung zu Beginn der Pandemie und die Hoffnung, dass jetzt vielleicht der Zeitpunkt gekommen sei, bei digitalen Themen endlich Fortschritte zu erreichen. Gleichzeitig kam dem Projekt auch die Bereitschaft und Solidarität vieler entgegen, die sich einbringen und helfen wollten. So haben sich viele seit Jahren engagierte Menschen daran beteiligt. Der Hackathon hat keine Community (wie z.B. EduCamps) geschaffen, sondern eine bestehende Netz-Community für sich gewinnen können. Es war auch kein klassischer Hackathon, weil Personen auch mit bereits fertigen Produkten teilnahmen und diese dort bewarben. 

Ich war als Pate für das Themenfeld Soziale Gerechtigkeit mit dabei. (Man findet mich namentlich nicht auf der Website, weil ich dort weder als Pate erscheinen noch als Juror agieren wollte, sondern nur einer Bekannten helfen, der ich zuvor meine Unterstützung zusagte, bevor ich wusste, dass es um dieses Projekt geht.) Weil viele wesentliche Fragen (allein für Pat:innen), die eine zentrale Arbeit erledigen mussten, von Beginn an im Raum standen und sogar bis zum Veranstaltungsbeginn ungeklärt blieben, hatte ich nicht den Eindruck, dass es darum ging, erfolgreiche, wirksame und nachhaltige Prozesse zu erzielen.

Gleichzeitig wurde im Slack-Kanal, über den alles Organisatorische lief, immer wieder begeistert kommuniziert und gefeiert, welche Zeitung über das Projekt berichtete oder bedeutende Person für das Projekt als Schirmherrin gewonnen werden konnte. Auch die Methoden, die eingesetzt wurden, um das Potential sozialer Netzwerke auszuschöpfen, haben mich irritiert. Das hinterließ zusätzlich zu den offenen Fragen bei mir den Eindruck, dass die angestrebte Außenwirkung, dieses Projekt sei groß, bedeutend und erfolgreich, wichtiger als die eigentlich kommunizierten Ziele waren. Aus meiner Sicht wurden hier viele instrumentalisiert, damit sich Max Maendler und Verena Pausder als erfolgreiche Macher:innen präsentieren können. Um es kurz auf den Punkt zu bringen, was

#WirFürSchule meiner Meinung nicht war:

1.) Wir

2.) für Schule

Bei Tests, Klassenarbeiten oder Prüfungen wird der Zugang zu Informationen unterbunden, Hilfsmittel verboten und Zusammenarbeit als Betrug bestraft. Was im späteren Leben normal und sogar zunehmend notwendig ist, wird in Schulen verhindert. Begründet wird das meist mit Argumenten, die weder die Transformationsprozesse der letzten Jahrzehnte noch eine Kultur der Digitalität berücksichtigen. Bei genauerer Betrachtung wird zudem klar, dass Noten und die Idee der Vergleichbarkeit von Leistungen die tatsächlichen Hürden darstellen. Diese Barrieren und weshalb und wie Leistungserfassungen geändert werden müssen, möchte ich im Folgenden diskutieren.

Wenn in irgendeiner Form im Unterricht oder am Ende der Schulzeit Leistungen erfasst bzw. geprüft werden, wird oft ein Szenario konstruiert, das außerhalb der Schule nicht (mehr) existiert, aber trotzdem weiterhin als wesentliche Legitimation dafür herhalten muss. Taschenrechner sollten schon zu meiner Schulzeit so wenig wie möglich benutzt werden, weil man schließlich nicht immer einen dabei habe und deshalb alles im Kopf ausrechnen können müsse. Bei den übrigen Kompetenzen und Inhalten der anderen Fächer verhält es sich ähnlich. Es werden Tische auseinander geschoben, Trennwände mit Schultaschen errichtet, Smartphones eingesammelt und Gespräche untersagt. 

Es muss immer noch viel auswendig gelernt, ohne Hilfsmittel und allein gearbeitet werden. Weshalb? Taschenrechner, Übersetzungssoftware oder Informationen stehen mit Smartphones fast allen Schüler:innen, wie auch dem Rest der Welt, ständig zur Verfügung. Austausch und Zusammenarbeit bilden das Fundament für Lösungen in einer immer komplexeren Welt, wie aktuell bei der Pandemie. Das ist kein Plädoyer für eine Abkehr von Grundwissen und -kompetenzen – im Gegenteil. Es gilt jedoch zu prüfen, was davon noch zeitgemäß ist und wie das gelingen kann.

Den Zugang zu Informationen, Hilfsmitteln und die Möglichkeit der Zusammenarbeit zu verhindern, funktioniert am besten durch die Kontrolle in Präsenz. Als im März 2020 die Schulen aufgrund von Covid-19 geschlossen wurden, Fernunterricht stattfinden musste und irgendwann auch die Frage nach Leistungserfassungen im Raum stand, wurde deutlich, sehr Prüfungen von präsentischer Kontrolle abhängig sind. Genau hier besteht die Chance, drängende Fragen, die sich in Distanz stellten, auf die Präsenz zu übertragen.

Was wäre, wenn bei jedem Test, jeder Arbeit oder Prüfung, Bücher und das Netz genutzt werden könnten, alle Hilfsmittel erlaubt und der Austausch mit anderen gewünscht wäre? Wie müssten solche Leistungserfassungen konzipiert sein? Tatsächlich muss hier auch immer eine zweite Frage zuerst neu gedacht werden: Wofür sollen Leistungen erfasst werden? Bezieht man diese Frage auf den gesellschaftlichen Wandel und die aktuellen und zukünftigen globalen Herausforderungen, muss hier die bisherige Vergleichbarkeit der Befähigung weichen.

Kurz und grob ist damit die Befähigung gemeint, selbständig lernen und Probleme lösen zu können, indem Kompetenzen und Wissen erfasst und offene Baustellen aufgezeigt werden. Im Grunde genommen war das ohnehin schon immer der Anspruch der meisten Lehrkräfte, die unterschiedliche Formen von Rückmeldungen nach Leistungserfassungen praktizieren. Noten stehen aber in einem deutlichen Gegensatz dazu, wirken dem entgegen und verankern die Vergleichbarkeit im Bildungssystem und den Köpfen. 

Deshalb richtet sich das Interesse von Schüler:innen bei der Rückgabe von Tests in der Regel nur auf die Noten. Was und wie gelernt wurde, spielt kaum noch eine Rolle, wenn die Zahl auf dem Papier feststeht. Diesen Fokus lernen sie von Erwachsenen von Klein auf. Spätestens ab Klasse 3, wenn die weiterführenden Schulen näher rücken, wird prophezeit, dass Noten im Studium, der Berufswelt und dem Leben Türen öffnen oder verschlossen lassen. Deshalb gibt es auch Notenbüchlein und Zeugnisse, die den Kurs angeben und keine ausführliche Dokumentation und Kommunikation von Wissen und Kompetenzen.

Bisherige Leistungserfassungen sind eher Leistungsmessungen. Deshalb werden zum Zeitpunkt der Messungen z.B. keine Fragen mehr erlaubt, weil sie sonst die Ergebnisse verfälschen würden, die eine Vergleichbarkeit gewährleisten sollen. Auch das Lernen ist währenddessen nicht erlaubt, weil beispielsweise Fehler bestraft und nicht als Möglichkeit, etwas zu lernen, verstanden werden. Wären das aber nicht auch wichtige Kompetenzen, Fragen zu stellen, Fehler zu erkennen, zu korrigieren und daraus lernen zu können? Müssten faire Leistungserfassungen nicht auch die Rahmenbedingungen der Lernenden berücksichtigen, unter denen sie Wissen und Kompetenzen erworben haben und deshalb individuell unterschiedlich sein?

Deshalb orientieren sich Konzepte für zeitgemäße Leistungserfassung (wenn u.a. die Befähigung zum selbständigen Lernen erreicht werden sollte) daran, Lernprozesse sichtbar zu machen und Lernende dabei zu unterstützen, diese zu erkennen, zu verstehen, zu dokumentieren und reflektieren zu können. Natürlich kann das teilweise auch mit bisherigen Tests, Klassenarbeiten und Prüfungen gelingen. Es erfordert aber an vielen Stellen eine Entwicklung offenerer Aufgabenformate, löst sich von der Idee der Wissensvermittlung, strebt Wissenserwerb an und bindet das Netz mit seinen Möglichkeiten ein.

Was das konkret fürs jeweilige Fach übersetzt bedeutet, muss jede Lehrkraft für sich und mit dem Kollegium aushandeln. Eine These aufzustellen, sie zu be- oder widerlegen, geht in vielen Fächern. Argumente zu Fragestellungen zu sammeln, zu sortieren und zu diskutieren auch. Oder Lernprodukte aus der Projektarbeit bieten eine hervorragende Grundlage, um Kompetenzen und Wissen zu erfassen. Müsste denn nicht nach den gesellschaftlichen Erfahrungen mit Covid-19 jeder Test in jedem Fach genutzt werden, um zu zeigen, wie man geeignete Quellen (im Netz) findet, sich kritisch mit ihnen auseinandersetzt und sie kommuniziert? 

Ehrlicherweise wird aber am Ende immer die Bewertung und Benotung ein Knackpunkt darstellen. Deshalb bedeutet zeitgemäße Leistungserfassung in letzter Konsequenz die Abschaffung von Noten. Ebenfalls ehrlich wäre aber auch das Eingeständnis, dass die bisherigen Bewertungen und Benotungen immer schon weit davon entfernt waren, das zu leisten, was sie sollten. Somit wäre eine Veränderung im Bereich der Leistungserfassung eine günstige Möglichkeit, sich dem zu nähern, was Lernen an sich bedeuten und erreichen soll.