Gestern bin ich auf einen Tweet gestoßen, indem sich ein Lehrer über einen Schüler, der in die Hose pinkelte, lustig gemacht hat. Weil mir das Thema auf diese Weise nicht zum ersten Mal begegnet, möchte ich ein paar Dinge ansprechen, die meiner Meinung nach eine (breitere) gesellschaftliche Debatte verlangen.
Als ich vor einigen Jahren Twitter beitrat und in meiner Biografie Lehrer angab, wurden mir relativ schnell Accounts in die Timeline gespült, die Unterhaltsames aus der Schule verarbeiteten. Mal mehr und mal weniger lustig. Anfangs machte ich auch mit und muss zugeben, mir wenige, ernsthafte Gedanken über schulische oder rechtliche Aspekte gemacht zu haben. Die Verlockung der Aufmerksamkeit ist da und wirkt auf Menschen unterschiedlich stark. Dass eine Kerstin Brune schon lange und erfolgreich über ihren Schulalltag twittert, macht es nicht nur akzeptabler, sondern lebt es auch vor. Humor ist gesund und Schule kann sowieso ne ordentliche Dosis davon vertragen. Außerdem fühlen sich Likes gut an und zusätzliche Follower noch mehr. Das Wohnzimmer-Stimmung eines Social Media-Accounts begünstigt das Ausblenden von Verantwortung und Konsequenzen. Das Bewusstsein dafür setzte bei mir erst ein, als ein Kollege mein Verhalten an einer Stelle kritisierte und mich auf die generelle Problematik aufmerksam machte. Seitdem bin ich sensibilisiert und orientiere mich (auch in sozialen Netzwerken) noch stärker am Sokrateischen Eid. Social Media sollte nicht nur ein Bestandteil der Lehrerfort- und -ausbildung sein, sondern auch im Unterricht den notwendigen Raum einnehmen. (Die in Baden-Württemberg immer noch geltende Handreichung des Kultusministerium von 2013 hat durch ihre Verbote lediglich das Problem aus dem schulischen in den privaten Bereich verlagert und bietet Schülerschaft und Kollegien bis heute keine Unterstützung auf der Suche nach Lösungen.)
Natürlich kostet das Kraft und Zeit, Kritisches anzusprechen. Es droht auch die Gefahr, im stets hippen Narrativ des Webs, als Spaßbremse oder spießig zu gelten, wenn man aus eigener Sicht problematische Tweets/Postings anspricht. Und dann ist da noch die Dynamik und Gefahr der Empörungskultur, die eigenen Gesetzen folgt. Die Grenzen der Satire wurden nach Böhmermanns Erdogan-Gedicht letztes Jahr breit, emotional und kontrovers diskutiert. Mit Humor verhält es sich wahrscheinlich ähnlich. Was geht oder nicht, handeln wir letztendlich durch unser Verhalten im Netz gerade aus. Ich wünsche mir Lehrer_innen, die über soziale Netzwerke ihre Schüler_innen als Mensch bestärken und unterstützen und nicht über Häme nach Reichweite eifern. Lehrende sind keine besseren Menschen und können auch nicht unfehlbar sein, haben aber berufsbedingt eine größere (auch rechtliche) Verantwortung als andere. Darüber sollte man sich vor jeder Veröffentlichung bewusst sein.
Ergänzungen
- Ich mag die Tweets von Kerstin Bruno und schätze (sehr) Humorvolles aus dem Schulalltag bei Twitter & Co. Mein Wunsch ist es, dass zukünftig Inhalte und Verhalten im Web mehr miteinander reflektiert werden.
- Weil sich in diesem Zusammenhang immer wieder das Argument „Wenn nicht bekannt ist, um wen es geht, schadet es auch keinem“ wiederholt: Das Problem ist, dass man in den meisten Fällen sehr wohl Näheres ermitteln kann, wenn man es darauf anlegt. Außerdem geht es nicht nur um den Schaden an der Person, sondern um gesellschaftliche Werte. Sich groß machen, indem man Mitmenschen klein macht, gehört nich zu meinem gesellschaftlichen Verständnis.
- Klarname und Profilbild helfen zumindest mir dabei, mich an die Verantwortung der digitalen Identität zu erinnern und unterstützen mich, sachlicher und zielführende zu diskutieren.
- Weil ich die oben verlinkte Social Media-Handreichung als noch ausbaufähig beschreibe, erhielt ich von Florian Karsten den Hinweis, dass bei ihm am Staatlichen Seminar für Didaktik und Lehrerbildung (Gymnasium) in Stuttgart alle Referendar_innen einen Vortrag zum Thema Soziale Medien und folgenden Leitfaden erhalten.
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