Wie viel Innovation braucht zeitgemäße Bildung?

Gut fünf der 200 Seiten Text über Innovation widmet Wolf Lotter in seinem neuen Buch, das sich mit der Digitalen Transformation und der daraus abgeleiteten Notwendigkeit einer Innovationskultur auseinandersetzt, der Bildung in der Innovationsgesellschaft. Das liegt wahrscheinlich auch daran, dass er Lehrer als Ordnungshüter und Systemerhalter, die weder (echte) Innovation wünschen noch die dafür notwendigen Rahmenbedingungen im Bildungssystem bieten (können), sieht. Dieser Ausschluss der Möglichkeit, Schule könnte ein Biotop für Innovation sein und werden, ist es, der genau das Verfolgen dieses Gedankens umso wichtiger macht. Deshalb möchte ich eine zarte Brücke zwischen seinen Ideen und der Bildung schlagen, die zum weiteren, vertieften Transfer einladen soll. Was bedeutet das für mich als Lehrer, meine Schülerinnen und Schüler, meine Schule oder Bildung allgemein? habe ich mir beim Lesen jedes Absatzes gefragt. Hier ein paar Notizen, die dabei entstanden sind.

Dass Systeme sich selbst erhalten und Wohlstandsgesellschaften ungern Risiken eingehen, gilt natürlich auch für das Leben innerhalb von Bildungsinstitutionen. Auch hier haben sich Strukturen und Hierarchien entwickelt, in denen Personen aufgestiegen sind und etwas zu verlieren haben. Die natürlichen Bestrebungen, diese Machtverteilung aufrechtzuerhalten, bremsen Neues aus. Lotter verweist auf die allgemeinen Regeln von Gemeinschaften, die sich im Laufe der Zeit etabliert haben, in denen Hörigkeit und Abhängigkeit über genau definierte Arbeitsbeschreibungen geschaffen werden. Auch auf der Basis von Misstrauen, das sich im Bildungskontext aus Regelwerken und dem Einfordern von Dokumentationen oder Leistungsnachweisen nährt. Untere Hierarchieebenen werden durch Arbeitsweisungen beschäftigt und kontrolliert. Geduldete und “zertifizierte“ Querdenker sind systemrelevant kalkuliert und nur Fassade, die den Anstrich von Innovation verleihen. So entstehen Strukturen, die nicht nur Prozesse für Verwaltung von Gleichmacherei und Anpassung fördern, sondern auch jeglichen Ansatz von Kreativität im Keim ersticken. Es werden Konzepte als Innovation verkauft und gefordert, die keine sind. Sie sind meist nur die Fortführung des Bestehenden mit neuem Feature. Ein Indikator dafür sehe ich im verbreiteten Wunsch nach fertigen Unterrichtskonzepten, der Copy-Paste-Innovation auf Bildungsveranstaltung zum digitalen Wandel.

InnovationWie müsste eine Innovationskultur in der Bildung aussehen und was wäre dafür notwendig? Wolf Lotter beschreibt und begründet sehr ausführlich das Wesen von Innovation und welche Faktoren ihre Entfaltung begünstigen. (Wenn er über das Arbeiten schrieb, übersetzte ich es gedanklich mit Lernen und Lehren. Bei Leadership dachte ich an die zuständige Position vom Klassenraum bis zum Ministerium.) Es braucht Experimentierräume, in denen Neugier und Erfahrung zusammentreffen. Einen Wettbewerb, der keinen Kampf, sondern eine Entwicklung, eine Verbesserung für alle darstellt. In dem Fehler kein Scheitern, sondern Teil des Prozesses sind und Menschen mutig sein dürfen, Risiken einzugehen und eine eigene Haltung entwickeln zu können. Freiräume, in denen Widersprüche und Differenzen gewollt sind, weil nur sie zu echter Innovation führen. Zeit und Geduld, um in Ruhe kritisch denken und nüchtern differenzieren zu können. Innovation ist dynamisch und unvorhersehbar. Sie braucht Leidenschaft, Ausdauer und Durchsetzungsvermögen. Innovationskultur ist inklusiv und barrierefrei. Es werden dabei alle zur Verfügung stehenden Ressourcen genutzt, um alle Lernenden individuell dazu zu befähigen, selbst zu denken, selbst zu entscheiden, selbstverantwortlich zu handeln und selbstbestimmt zu leben. In der Digitalen Transformation steht das Individuum, der Lernende (wobei diese Rolle alle betrifft und nicht nur auf Schülerinnen und Schüler reduziert werden darf) im Mittelpunkt und Mündigkeit, im Sinne Kants, bildet das Gerüst. 

Die treibende Kraft von Innovation, sagt Lotter, liegt in der Neugier des Individuums. Damit sich diese auch entfalten kann, dürfen Talente nicht in Ordnungssystemen gefesselt werden, sondern benötigen flexible und anpassungsfähige Strukturen. Das Geheimnis einer Organisation liegt ihm zufolge darin, sie in viele kleine Einheiten aufzubrechen, damit sie als Ganzes anpassungsfähig bleibt und jeder seine individuelle Stärken ausspielen kann. Wie so ein Transfer auf die Schulentwicklung auf allen Ebenen aussehen könnte, gilt es auszudiskutieren. Was es aber dafür brauchen wird, nennt er bereits in seinem Buch: Ambiguitätstoleranz. 

Hätte Wolf Lotter ein Bildungsbuch geschrieben, hätte er wahrscheinlich gefordert, dass Lehrende zu Ermöglichern der Selbstermächtigung werden müssen. Dass sie die führende Rolle einem selbstständig handelnden Lernenden überlassen und sich um optimale Bedingungen für seine Entfaltung kümmern sollen. (Vielleicht wäre das auch ein günstiger Zeitpunkt, die gerne belächelte Lernbegleitung, die manche auch als Entwertung ihrer Autorität und Fähigkeiten empfinden, durch Lernermöglichung auszutauschen.) Lernende müssen herausfinden, wer sie sind und was sie können oder möchten. Nur so kann echte Kollaboration entstehen, wenn sich jeder seiner Stärken und Ziele bewusst ist und sie vernünftig einsetzen kann. Den Rahmen dafür bildet eine Vertrauenskultur, in der jeder Person die freie Wahl zugestanden und zugetraut wird, wann und wie sie Neuem begegnet. Innovationen eröffnen nach Lotter Zugänge, vor allem für Benachteiligte, und sollte Probleme verringern oder lösen. Ein spannender Gedanke, im Hinblick auf Bildungszugänge und -gerechtigkeit, die besonders im laufenden Prozess des Kulturwandels eine zentrale Rolle spielen müssen.

Eine Buchstelle, die sich mit Führung und Innovation beschäftigt, möchte ich für mitlesende Menschen aus dem Bildungsbereich, die mit entsprechenden Befugnissen ausgestattet sind, hervorheben. Gary Hamel, ein amerikanischer Ökonom und Unternehmensberater, wird darin zitiert, dass moderne Organisationen nicht hierarchisch aufgebaut sind, sondern eine horizontale Transparenz herrscht, in der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erkennen, dass sie am selben Strang ziehen und deshalb gerne zusammenarbeiten. Lotter spricht davon, wie Teamarbeit missverstanden und dabei auf Leute, die sich leicht anpassen, gesetzt wird. Wer aber Innovation wünscht, braucht konstruktive Störer, die in laufenden Prozessen immer wieder Dinge in Frage stellen, anregen in andere Richtungen zu denken und Lösungsvielfalt fördern. 

Die bereicherndsten Impulse für mein Wirken an Schulen und im Unterricht erhalte ich meist bei Veranstaltungen, Personen oder Themen, die auf den ersten Blick so gar nichts mit Bildung zu tun haben und kann deshalb nur alle Lehrenden ermuntern, sich immer wieder selbst zu überraschen. Wolf Lotter hat beim Schreiben seines Buches Innovation – Streitschrift für barrierefreies Denken die Bildungslandschaft sicher zuletzt als potenzielle Leserschaft im Hinterkopf gehabt. Umso mehr kann ich es ihr ans Herz legen, es zu lesen. Mich wird es auf jeden Fall noch einige Zeit beschäftigen.

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