Beiträge, die ich als Kolumnist für das Deutsche Schulportal verfasse, veröffentliche ich drei Wochen später auf diesem Blog, um meine Texte auf einer Website gebündelt zu haben.
Die grundlegenden Veränderungen unserer Lebenswelt durch den digitalen Wandel führen im Bildungsbereich seit Längerem zu Diskussionen über neue, zeitgemäße Prüfungsformate und wie sie den gewandelten Herausforderungen gerecht werden könnten. Weshalb eigentlich nicht einen Schritt weitergehen und komplett auf Prüfungen verzichten? Jährlich bereiten sich unzählige junge Menschen auf Prüfungen in Schulen und Hochschulen vor. Neben der in die Vorbereitung investierten Zeit und Kraft werden auch enorme Ressourcen für die Durchführung von Prüfungsformaten bereitgestellt. Gute Gründe, die Notwendigkeit dieser Praxis genauer zu beleuchten.
Wozu braucht es Prüfungen?
Diese Frage habe ich vor einiger Zeit online und offline diskutiert, um die vielen starken Argumente zu sammeln, die es eigentlich geben müsste, um die investierten Ressourcen zu rechtfertigen:
- Der weitaus größere inhaltliche Umfang führe zu vertiefterem Wissen, weil alles noch mal wiederholt werden muss.
- Prüfungen dienten auch als extrinsische Motivation, die auf das spätere Leben – besonders in der Berufswelt – vorbereite, in dem man unter Druck agieren können müsse; sie seien somit eher ein Stresstest als eine Wissensprüfung.
Das waren die häufigsten und stärksten Argumente.
Pro-Argumente im Check
Findet das Vernetzen und Vertiefen von Wissen erst durch die Prüfung statt, stellt sich die Frage, weshalb das nicht bereits davor im Schulalltag geschehen ist, beziehungsweise welches Lernverständnis eigentlich vorliegt. Geht es um banales Auswendiglernen – im schlimmsten Fall herausgelöst aus einem Kontext – oder um persönlich sinnstiftendes Lernen? Wer von Beginn an wirksame und nachhaltige Lernprozesse ermöglicht, benötigt keine Prüfung, um das nachzuholen.
Wird die Vorbereitung auf die harte Berufswelt als Argument bemüht, scheint noch nicht bekannt zu sein, dass gerade diese zunehmend beklagt, junge Menschen seien nicht ausreichend gut auf sie vorbereitet. Wenn Prüfungen also nicht mal diese Versprechen halten, bleiben große Zweifel, ob sie in ihrer Art und Weise auch noch auf die digitale Transformation in der Arbeitswelt und deren veränderte Anforderungen vorbereiten.
Was spricht gegen Prüfungen?
Prüfungen sind mit die stärksten „Influencer“ im Bereich Unterricht, Ausbildung oder Studium. Wenn Lehrende gefragt werden, weshalb sich der digitale Wandel nicht in ihren Lernsettings abbilde, sie ihren Unterricht nicht öffnen, agile Didaktik verwenden oder Projektarbeit anbieten, werden als Grund häufig „Prüfungen“ genannt. Schließlich mündet alles bei ihnen. Sie bestimmen die Abschlussnoten – und über Erfolg oder Misserfolg im weiteren Leben. Prüfungsformate beeinflussen somit massiv, wie und woraufhin gelernt wird.
Stünde am Ende keine Prüfung, könnten Lernende und ihre individuellen Lernprozesse in den Mittelpunkt rücken – und nicht die jeweiligen Prüfungsformate. Wie individuelles Lernen mit standardisierten Prüfungsformate zusammenpassen soll, bleibt ohnehin ein Rätsel. Und wie sieht es mit der notwendigen Fehlerkultur aus, die im Rahmen der digitalen Transformation genannt wird? Zum Lernen gehören auch Fehler dazu sowie die Fähigkeit, sie zu erkennen, zu verstehen und zu verbessern. Bei Prüfungen hingegen werden Fehler bestraft und sind „schlecht“.
Ein Abschluss ist auch ohne Prüfungen möglich
Weshalb also nicht auf Prüfungen komplett verzichten und im letzten Schuljahr alle Leistungen wie in den Jahren zuvor erfassen? Abgesehen von den frei werdenden Ressourcen, die an anderer Stelle eingesetzt werden könnten, würde dadurch auch manches Leid erspart bleiben – bei den Geprüften, bei Eltern oder Prüfenden. Geht es denn in der Schule nicht darum, junge Menschen zu befähigen, ein mündiges und erfülltes Leben führen zu können? Was tragen Prüfungen dazu bei, oder was verhindern sie vielleicht? Diese Fragen verdienen eine Prüfung.