Die Forderung nach einer zuverlässigen digitalen Infrastruktur im Bildungsbereich ist populär, richtig und leider auch in 2021 immer noch nötig. Sie stellt eine technische Grundlage dar, um dem kulturellen Wandel begegnen zu können. Das Lernen in der Postdigitalität muss aber bereits ausgehandelt werden, bevor jederzeit, überall und zuverlässig alle einen Zugang zum Netz erhalten haben, weil es die Perspektive auf das Wesentliche richtet und damit gesellschaftlich notwendige Veränderungen aufzeigt. Es folgt einer anderen Logik, fordert ein neues Verständnis und allein aus demokratischen Gründen eine kulturelle Weiterentwicklung.
Zu Beginn eine kurze Begriffsklärung: Was bedeutet Postdigitalität? Der Ausdruck beschreibt einen Zustand, in der alle Formen der Digitalität als Kulturtechniken gesamtgesellschaftlich anerkannt sind. Das bedeutet erstens, dass Digitalität nicht auf Technik reduziert, sondern in ihrer Auswirkung auf den Alltag verstanden wird. Zweitens gibt es diese Kulturtechniken, unabhängig von den Beurteilungen von Menschen. Es ist irrelevant, ob jemand eine Form der Digitalität gutheißt oder ablehnt. Kulturtechniken der Digitalität sind vergleichbar mit dem Lesen von Büchern oder dem Schreiben mit Stift und Papier: Sie werden, ohne längere Gedanken daran zu verlieren, automatisch in die Hand genommen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Mit der gleichen Selbstverständlichkeit kommen in der Postdigitalität “digitale“ Kulturtechniken wie alle anderen zum Einsatz. Analog oder digital spielt keine Rolle mehr.
Eine andere Logik
Das aktuelle Bildungssystem wurde in einer Kultur entwickelt, in der Bücher das Leitmedium darstellten. Sie prägen seit über 100 Jahren seine DNA. Deshalb richtet sich die Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen immer noch nach der Logik der Gutenberg-Galaxis: Schulbücher liefern das (einst kulturell ausgehandelte) notwendige Wissen und Lehrpersonen den Zugang dazu. Lernen kann dann stattfinden, wenn beides vorliegt, ist an Ort und Zeit gebunden und schafft Abhängigkeiten. (Was u.a. das Beharren auf klassischem Präsenzunterricht während Covid-19 oder das Fehlen asynchroner Prozesse erklärt.) Das Lernen läuft chronologisch ab, vom ersten bis zum letzten Kapitel eines Buches, auf das ein nächstes folgt. Das Internet ist in dieser Gleichung ein Störfaktor und bestenfalls eine Zusatzaufgabe.
Was mit den Schulschließungen im März 2020 nicht selten zu beobachten war: Lehrpersonen haben auf Papier gedruckte Arbeitsblätter mit einem Smartphone oder Tablet fotografiert und auf die digitale Plattform der Schule hochgeladen oder sie gemailt. Eltern haben diese heruntergeladen, ausgedruckt, das Papier von ihren Kindern mit einem Stift bearbeiten lassen und das Ergebnis wieder fotografiert und hochgeladen oder via Mail zurückgeschickt. Dieses Resultat wirkt nur auf die befremdlich, die bewusst die Kultur der Digitalität wahrnehmen und sich darin bewegen. Für Menschen, die sich an der Logik der Gutenberg-Galaxis orientieren, scheint alles schlüssig.
Dieses Beispiel verdeutlicht, dass selbst mit vorhandener digitaler Technik nicht automatisch ein (notwendiger) kultureller Wandel einhergeht. Deshalb sind auch nicht alle digitalen Angebote innovativ und Produkte einer Kultur der Digitalität, sondern können Ergebnisse der Buchdruck-Kultur sein. Das bedeutet, dass von der Konzeption von digitalen Arbeitsblättern bis zum Design von Lernplattformen teilweise die Logik der Buchkultur maßgebend ist. Das Leitmedium Buch führt dazu, dass bisherige Strukturen und Prozesse oft nur digitalisiert und nicht notwendigerweise neu gedacht werden. (Was dazu beiträgt, dass der kulturelle Wandel verzögert oder verhindert wird.) Deshalb ist es wichtig, digitale Phänomene von Beginn an unter der Perspektive der Kultur der Digitalität zu betrachten, um sie besser zu verstehen und ihrer Logik folgen zu können.
Kultur der Digitalität
Um das Lernen in der Postdigitalität zu diskutieren, sind ein Grundverständnis einer Kultur der Digitalität und ein verändertes Bildungsverständnis erforderlich, das aktuelle und zukünftige gesellschaftliche Herausforderungen berücksichtigt. Wie sich durch Transformationsprozesse eine Kultur der Digitalität entwickelt hat, was sie auszeichnet und welche demokratischen Herausforderungen sich stellen, schildert Felix Stalder in seinem gleichnamigen Buch. Wer sich mit der Thematik vertieft auseinandersetzen möchte, sollte es lesen.
Grob zusammengefasst nennt Stalder drei charakteristische Formen, die eine Kultur der Digitalität eine wesentliche Rolle spielen: Referentialität, Gemeinschaftlichkeit und Algorithmizität. Wie und was als kulturell bedeutend ausgehandelt wird, bildet den Rahmen. Mit Referentialität beschreibt er, wie Bezüge hergestellt und Ansätze weiterentwickelt werden, mit Gemeinschaftlichkeit die Notwendigkeit und Organisation dieser Austauschprozesse mit anderen und mit Algorithmizität bezieht er sich auf die Funktion, Wirkung und Anwendung von Algorithmen (großer Informations- und Kommunikationskanäle), die diese kulturellen Prozesse und Ordnungen prägen.
Blogbeiträge, wie dieser, stellen in der Regel Bezüge zu Text-, Video- und Audiodateien im Netz anderer Personen her (wie z.B. Tweets, YouTube-Videos oder Podcasts) und entwickeln Ideen weiter. Sie sind gemeinschaftliche Produkte in ihrer Entstehung, können als solche nachvollzogen und weiter gestaltet werden. Ihre Relevanz wird durch andere ausgehandelt. Beispielsweise wie oft sie gelikt oder geteilt werden. Algorithmen spielen hier mit eine Rolle, ob und wie sie andere erreichen, z.B. über eine Google-Suche oder eine Empfehlung auf einer digitalen Plattform.
Beim Projekt Routenplaner #digitaleBildung druckten wir thematisch essentielle Blogbeiträge als Buch, um Menschen zu erreichen, die am Aushandlungsprozess im Netz bisher nicht teilnahmen. Dass auch viele andere Personen, die die Kultur der Digitalität im Netz aushandeln, Bücher zu ähnlichen Themen drucken, verdeutlicht, dass die Kultur der Digitalität gesamtgesellschaftlich noch nicht angekommen ist und ihrer Logik nicht gefolgt wird. Es erklärt zudem den aktuellen Stand in Deutschland und weshalb viele Bereiche mit den Herausforderungen der Digitalen Transformation überfordert sind. (Dass und wie sehr Blogbeiträge einer anderen Logik folgen als Bücher, haben wir bei der Produktion auch zeitintensiv erfahren.)
Lernen in der Postdigitalität
In den letzten Jahren habe ich gelernt, dass zu viel Ungewissheit und Freiheit bei Menschen auch zu Überforderungen führen können und Bilder ihnen bei der Orientierung helfen. Deshalb möchte ich ein paar zeichnen, die ein (zukünftiges) Lernen in der Postdigitalität beschreiben und Philippes Beitrag aus dem Juni 2020 ergänzen. In diesem Szenario haben sich reformpädagogische Strömungen durchgesetzt, Lernende stehen im Mittelpunkt, so wie auch Persönlichkeitsbildung, Demokratiebildung und die Befähigung zu kultureller Teilhabe (in einer Kultur der Digitalität) stellen als wesentliche Elemente der Lernprozesse einen breiten Konsens dar. Der Zugang zum Netz ist wie Wasser selbstverständlich und überall und zuverlässig für alle vorhanden. (Ich hoffe, dass ich das erleben werde.)
Es mag manche überraschen, aber was Lernen in der Postdigitalität bedeutet, das nicht auf vorher festgelegte und bestimmte Bücher, Lehrpersonen, Zeiten und Orte beschränkt ist, lässt sich auch heute schon beobachten. Es findet dann statt, wenn nicht gelernt werden “muss“. Und weshalb dabei nicht einen Blick auf die richten, die allein beruflich bedingt wissen sollten, wie man lernt: Lehrende. Wie haben so viele von ihnen das Wissen und die Kompetenzen einer Kultur der Digitalität erworben, die (besonders in den letzten Monaten) in Zeitungen gelobt, im Fernsehen hervorgehoben und im Radio gewürdigt wurden? Im und mit dem Netz. Meine kurze These dazu lautet: So, wie Erwachsene in ihrer “Freizeit“ lernen, sollten Schüler:innen lernen (dürfen). Wie sie vorgegangen sind, möchte ich kurz erläutern.
Wissen und Kompetenzen über eine Digitale Identität
Lehrende haben sich zu Beginn so gut es geht einen Überblick über soziale Netzwerke verschafft: welche Personen und Informationen wo zugänglich sind, wo und wie diskutiert und genetzwerkt wird oder wie die Plattformen an sich funktionieren, wirken und angewandt werden. Am Ende haben sie sich entschieden, in welchem Netzwerk sie (weiterhin) aktiv sein möchten. Sie haben beobachtet, wie andere es machen, haben Fragen an die Community gestellt und sich gegenseitig unterstützt. So haben sie über die Jahre eine digitale Identität entwickelt, mit der sie sich wohlfühlen, Netzwerke geschaffen, mit denen sie sich austauschen und sich befähigt an aktuellen Diskursen teilzunehmen und sie zu gestalten.
In diesen Handlungen haben sie in kritischen Debatten hinsichtlich der Algorithmizität erfahren, dass Algorithmen z.B. Rassismus reproduzieren, strukturell benachteiligen oder Sachverhalte verzerren können. Sie haben gelernt, wie sie für ein Anliegen Aufmerksamkeit erreichen, Information auf ihre Richtigkeit prüfen oder Expert:innen zu einem Thema finden können. Sie haben vor allem ihre Rolle gewechselt. Weil sie als Lernende ins Netz sind, um sich mit der Kultur der Digitalität auseinanderzusetzen. Auf diese Weise konnten sie wirksam und nachhaltig ein breites Wissen und Kompetenzen erwerben, die sich so in keinem Fach oder Stundenplan abbilden lassen.
Rollenwechsel
Die Grenze zwischen Lernenden und Lehrenden ist fließend im Netz. Anfangs ist man zwar noch mit dem Aufbau eines Grundverständnisses beschäftigt. Je souveräner aber die digitale Identität, umso eher wird erfahrungsgemäß die Rolle der Lehrenden eingenommen und die Expertise, Perspektive und Erfahrungen mit anderen geteilt. So arbeiten viele Lehrer:innen heute nicht mehr nur im Klassen- oder Schulraum, sondern transformieren und verschmelzen ihn mit dem Netz. (Was ich beschreibe, sind Erfahrungen, die übrigens Schüler:innen auch schon sammeln, nur außerhalb der Schulzeit und -aufgaben.) Dabei werden auch adressatengerechte und adäquate Kommunikation und der Umgang mit kontroversen Debatten und Kritik gefordert und gelernt.
Open Educational Resources
Der nächste logische Schritt zur Kultur der Digitalität müsste sein, dass Lehrende alle ihr Texte und sonstigen Materialien nicht mehr für ihren Unterricht, Schulbücher oder -hefte produzieren, sondern sie allen im Netz unter freier Lizenz zur Verfügung stellen. (Das könnte beispielsweise zu einem Netflix für Bildung führen.) Damit sie von anderen benutzt, verbessert oder auf eine andere Weise weiterentwickelt werden können. Sie arbeiten dabei mit Hochschulen und Expert:innen aus anderen Bereichen interdisziplinär zusammen, aber auch mit Schüler:innen. Es gibt jede Menge gute Gründe und Ziele, die für OER an dieser Stelle sprechen.
(Vor über fünf Jahren stellte ich in einer Barcamp-Session auf dem Digital Education Day in Köln die Frage, ob es für den Unterricht digitalisierte oder überhaupt noch Bücher braucht und nahm mir später vor, mit einem Kollegen Verfassertexter im Netz zu veröffentlichen. Die Idee wurde leider nie umgesetzt, weil uns beiden die Zeit dafür fehlte. Ich frage mich aber bis heute, weshalb Lehrer:innen überhaupt noch für Schulbücher publizieren, statt sie im Netz zu veröffentlichen. Reich werden sie damit sicher nicht und finanziell hätten sie es auch nicht nötig. Wenn es um Anerkennung gehen sollte, kann ich ihnen versprechen, dass sie im Netz weitaus mehr gelesen werden würden.)
Dass Ideen, Ansätze und Produkte ins Netz gestellt werden, um sie gemeinsam mit anderen zu optimieren, zeichnet die OER-Community aus. Unfertiges ist dabei ein gleichwertiger Bestandteil der Prozesse wie das fertige Produkt. Die Remix-Kultur und Beteiligung bzw. Referentialität und Gemeinschaftlichkeit sind tragende Säulen dieser Community. (Junge Menschen praktizieren das z.B. bei TikTok.) Dazu gehört nicht nur Content, sondern auch Digitale Tools, die kollaboratives Arbeiten ermöglichen oder Anleitungen und Unterstützung bei der Produktion. (Hier möchte auf die ZUM, die seit über 20 Jahren diese Community prägt, und auf das OER-Buch von Jöran verweisen.)
Wenn Personen als “bildungsfern” bezeichnet werden, sind meist Menschen damit gemeint, die “bildungszugangsfern” sind. OER können Zugänge zu Informationen und Möglichkeiten des Wissenserwerbs erhöhen und damit strukturellen Benachteiligungen entgegenwirken und Bildungsgerechtigkeit fördern. Zusätzlich bieten OER das Potenzial, einseitig besetzte Gatekeeper, die über Relevanz von Content bestimmen, abzulösen und mehr Diversität und Barrierefreiheit zu erreichen. Auch das sind Aspekte einer Kultur der Digitalität, dass kulturelle Vielfalt sichtbar gemacht wird und sich entfalten kann.
Was zu tun bleibt
Und jetzt gehen wir davon aus, dass alles, was ich gedanklich gezeichnet habe, Schüler:innen oder Studierende lernen und auch machen dürfen. Dass sie ihre Lernprodukte in der Schulzeit oder im Studium auf ihrem Blog oder anderen Kanälen veröffentlichen und einem breiten Publikum zur Verfügung und Debatte stellen. Beiträge, die nicht in der Regel nur eine Lehrperson zu sehen bekommt und nur dafür erstellt werden, um eine Note zu erhalten, sondern um sie mit der Welt zu teilen, als Teil der Persönlichkeitsentwicklung, kulturelles Gut oder auch um zu lernen, wie sie mit der Welt in Wechselwirkung treten und sie mitgestalten können.
Lernen in der Postdigitalität orientiert sich daran, was reformpädagogisch gewünscht und global erforderlich ist und erreicht das über Zusammenarbeit und Solidarität. Gelernt wird nicht nur über das Verständnis von Strukturen und Prozessen einer Kultur der Digitalität, sondern auch über das Produzieren und Interagieren im Netz. Durch die Arbeit an der digitalen Identität steht neben dem Erwerb von Wissen und Kompetenzen auch das Schaffen von Netzwerken im Vordergrund, die als Basis und Startpunkt vom lebenslangen Lernen verstanden werden können.
Dieser Beitrag ist und kann nicht vollständig sein. Es ist ein erster Aufschlag und folgt der Logik einer Kultur der Digitalität. Er ist eine Einladung zu einem vertieften Austausch, zur Weiterentwicklung von Ideen und Ansätzen, aber auch konkreten Beispielen, wie Lernen in der Postdigitalität aussehen kann und muss.
Danke für Deinen Beitrag, Dejan!
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